Der norwegische Politiker und Präsident des Weltwirtschaftsforums Børge Brende analysiert in seinem auf dem Portal narendramodi.in veröffentlichten Artikel „Innovating for India Impacting the World“ diverse Aspekte der Reformen Indiens, die dem Land – in Zeiten von Wirtschaftskrisen und geopolitischen Auseinandersetzungen – ein außergewöhnliches Wachstum bescheren und in der Weltgemeinschaft für Aufmerksamkeit sorgen.
Wenn das 19. Jahrhundert durch die Industrialisierung und das 20. Jahrhundert durch die Expansion der Marktwirtschaft und der Globalisierung gekennzeichnet werden können, so ist das 21. Jahrhundert eher unter dem Aspekt einer rasanten Technologieentwicklung zu betrachten. Borge Brende charakterisiert es als eine durch dramatische und allgegenwärtige Transformationen sowie durch einen Wechsel von Unipolarität zu Multipolarität bestimmte Phase.
Hierbei habe der Beginn der vierten industriellen Revolution, ausgelöst durch den technologischen Wandel zu grundlegenden Veränderungen des Formats und Struktur der Wirtschaft geführt. Mit einer deutlichen Umverteilung von Volumen, Standort und Zusammensetzung von Produktion wurden Organisationen globaler und vernetzter denn je.
Allerdings seien Negativfolgen zu spüren: Einerseits die ein zunehmender Vertrauensverlust in bestehende politische Rahmenbedingungen und Institutionen, der die Gesellschaft immer mehr in die Isolation und Divergenz treibt. Auch waren die ökologischen Herausforderungen und die Klimakrise noch nie so existenziell wie heute.
Gleichzeitig haben diese schwerwiegenden geopolitischen und ökologischen Auseinandersetzungen, eskalierende Handelskonflikte und politische Unsicherheiten zu einer Verlangsamung der Investitionen und dem Vertrauensverlust in Unternehmen geführt. Um eine um positive Entwicklung voranzutreiben, sei Brendes Ansicht nach eine kohärente Führungsstruktur in dieser fragilen Weltordnung unumgänglich.
Rolle in der Weltgemeinschaft
Vor allem sind die ökonomischen Aussichten besorgniserregend. Das globale Wachstum des Bruttoinlandsprodukts ist 2019 auf 3,2% gesunken ist, dabei wird nur eine moderate Erholung für die nächsten Jahre prognostiziert. Die führt dazu, dass die Glaubwürdigkeit in das bestehende regelbasierte multilaterale Handelssystem schwindet. Und da das weltweite Wirtschaftswachstum mit hoher Wahrscheinlichkeit um mindestens einen Prozentpunkt fallen wird, so Brende, ist das Ausmaß dieses Rückgangs in der Tat mit der schmerzhaften globalen Rezession Anfang der 2000er Jahre vergleichbar.
Die Konjunkturaussichten für Südasien seien hingegen weiterhin gut. Im letzten halben Jahrhundert haben Schwellen-und Entwicklungsländer ihren Beitrag zur globalen Produktion von rund 15 Prozent auf über 50 Prozent deutlich erhöht. Gestützt auf die starke Binnennachfrage, den privaten Konsum und die Investitionen deutet eine Wachstumsprognose von sieben Prozent auf die Widerstandsfähigkeit und Stärke Südasiens hin, nicht nur die globale Abschwächung zu überstehen, sondern auch dazu beizutragen, das globale Wachstum voranzutreiben.
Mit seinem BIP-Wachstum, das in den nächsten Jahren erneut um 7,5 Prozent steigen wird, ist Indien weiterhin eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt. Indiens markanter Aufstieg sowie andere Aspekte würden dafür sprechen, dass das Land seine Vision verwirklicht, in den nächsten anderthalb Jahrzehnten zu einer 10-Billionen-Dollar-Volkswirtschaft zu werden.
Indiens Führung gab den Land dabei ein deutlich erweitertes globales Profil. Beispielsweise zeige Indiens Engagement für erneuerbare Energien, verdeutlicht durch freiwillige und ambitionierte Stromproduktionskapazitäten mittels erneuerbarer Energien, eine führende Rolle bei den Pariser Klimaverhandlungen und die internationale Solarallianz, die Ambitionen des Landes, führend bei der Umweltsicherheit und dem Klimaschutz werden zu wollen.
Brende verweist auch auf eine immer stärkere Beteiligung Indiens an den weltweiten humanitären Bemühungen und Entwicklungsinitiativen, einschließlich der Infrastrukturentwicklung in Afghanistan, dem internationalen Nord-Süd-Verkehrskorridor, dem Ashgabat-Abkommen, dem Chabahar-Hafen und der trilateralen Autobahn Indien-Myanmar-Thailand. Zudem demonstriert Indiens demonstriere durch eine verstärkte Beteiligung an Koalitionen wie der Shanghai Cooperation Organization, der Asian Infrastructure Investment Bank, dem Indien-Brasilien-Südafrika Dialogforum und der BRICS-Ländergruppe seinen wachsenden globalen Einfluss und das Bedürfnis, die Wahrnehmung der eigenen Bandbreite globaler Initiativen und multilateraler Gremien zu stärken, heißt es.
Indiens Reformpolitik
In Anbetracht globaler und interner ökonomischer Probleme und Herausforderung besitzt Indien laut Brende einen einzigartigen demografischen Vorteil - die Hälfte der indischen Bevölkerung sei im erwerbsfähigen Alter. Indien befindet sich auf Platz. 52 des diesjährigen „Global Innovation Index“ und gehört damit zu den wenigen Länder, die ihr Ranking neun Jahre hintereinander verbessert haben. Daneben habe das Land technisches Potenzial und das Gespür für Innovation, die - kombiniert mit dem fortschrittlichen Technologie-Möglichkeiten der vierten industriellen Revolution - die Stellung des Landes als dominierende Macht in globalen wirtschaftlichen, politischen und strategischen Angelegenheiten festigen könne.
Indien handelt offenbar in dem Bewusstsein, dass das Streben nach einer Großmacht zu Hause beginnen muss, und führt in diesem Sinne bahnbrechende Strukturreformen durch, die seine Wachstumsziele und Entwicklungsprioritäten widerspiegeln. Initiativen zur Umgestaltung der restriktiven Geschäftsvorschriften hätten zu einem verbessertem Geschäftsklima und Vertrauen der Anleger beigetragen. Beweis dafür sei Indiens 65-Plätze-Sprung im „Ease of Doing Business rankings“ der Weltbank, so Brende.
Neben einer Vielzahl von neu entstandenen Start-ups, die Innovationen in alle Bereichen eingebracht hätten, ist die Liberalisierung des Einzelhandels ein ein weiterer wichtiger Policy-Erfolg der indischen Regierung. Diese hatte es es den Einzelhändlern in den letzten zehn Jahren gewährt, Waren online an indische Verbraucher zu verkaufen, noch vor der Eröffnung der herkömmlichen Geschäfte und weitet so den heimischen Einzelhandelsmarkt für globale Akteure deutlich aus.
Zudem hat die Einführung der Waren-und Dienstleistungssteuer die steuerlichen Hindernisse zwischen den Ländern beseitigt, diverse Bundes- und Landessteuergesetze vereinheitlicht und dadurch einen Binnenmarkt geschaffen.
Um sicherzustellen, dass seine wirtschaftlichen Errungenschaften der inklusiven Entwicklung entsprechen, hat Indien ebenfalls große Fortschritte in der sozialen Entwicklung vorzuweisen. Die Erweiterung des biometrischen Identifikationssystems bei der indischen Regierungsbehörde „Unique Identification Authority of India“ (UIDAI) hat die Bereitstellung staatlicher Dienste rationalisiert und die Mittelverausgabung durch Wohlfahrtsprogramme effizienter gemacht. Dabei ist es keine leichte Aufgabe, eine Datenbank mit mehr als einer Milliarde Menschen enthält zu erstellen, so Brende. Dazu wurden im Rahmen der finanziellen Eingliederung, Bankkonten für 300 Millionen Personen, die noch keinen Zugang zu Kreditinstituten hatten, bereitgestellt. Dies sollte ihnen neue Möglichkeiten für den Zugang zu Krediten und staatlichen Subventionen eröffnen und sie in die formelle Wirtschaft einbeziehen.
Initiativen für universelle Gesundheitsversorgung, Programme zur Verbesserung der Energieeffizienz, eine umfassende Elektrifizierung des ländlichen Raums und ein starker Push in Richtung eines breit angelegten Zugangs zu Energie und Sicherheit zeigen unter anderem Indiens Fähigkeit, eine Reformagenda zu erarbeiten und umzusetzen, die globale Bestrebungen mit kritischen Bedürfnissen zu Hause in Einklang bringt.
Fazit
Brende zufolge muss Indien seinen Weg zu ganzheitlichen Strukturreformen künftig fortsetzen, die die Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit seiner Wirtschaft fördern und gleichzeitig sicherstellen, dass der Fortschritt eine breite Basis erreicht. Es ist wichtig, dass das Land moderne Infrastruktur, soziale Diensten und die Vernetzung einer entwickelten Wirtschaft entwickelt. Gleichzeitig sollten Arbeitsplätze, Wohlstand und Vermögen entstehen, um einerseits den Bestrebungen der jungen und aufstrebenden Bevölkerung gerecht zu werden, und andererseits zur Beseitigung der Armut beizutragen.
Diesen Wandel in einem Land mit mehr als 1,3 Milliarden Einwohnern herbeizuführen, die dutzende von verschiedenen Sprachen und Dialekten sprechen und unterschiedliche Bräuche und kulturelle Praktiken haben, ist immense Herausforderung. Aber mit seiner geografischen und demografischen Größe und seiner immensen Vielfalt hat Indien eine einzigartige Chance, globale Agenden zu entwickeln. Ausgehend von diesen Möglichkeiten kann sich Indien als Vorbild und Inspiration für die Weltgemeinschaft etablieren, mit einem herausragenden Einfluss auf unsere gemeinsame Zukunft. Indien kann seinen eigenen Einflussbereich erschließen und als Weltmarktführer aufsteigen, indem es der Welt Lösungsansätze für globale Herausforderungen anbietet.
Titelbild: selenjanin/Pixabay
Zu dem Autor: Børge Brende ist ein norwegischer Politiker und Präsident des Weltwirtschaftsforums von Davos. Er war zuvor unter anderem norwegischer Umweltminister, Minister für Handel und Industrie. Zwischen 2013 und 2017 war er Außenminister Norwegens. Als solcher fiel auch die Entwicklungszusammenarbeit in seinen Zuständigkeitsbereich.
Quelle: Børge Brende, „Innovating for India Impacting the World“, https://www.narendramodi.in/reflections/innovating-for-india-impacting-the-world-65
© 2020 EuroBRICS World Economy S.L. Alle Rechte vorbehalten.