Von Lucas Leiroz
Die Wissenschaft der Geopolitik macht häufig von dem geografischen Dualismus von „Land und Meer“ Gebrauch. Die großen Weltmächte werden daher je nach ihrer Strategie als Land-oder Seemächte klassifiziert. Ein Staat, der sich für die Ausdehnung zu Lande entscheidet, richtet den Schwerpunkt auf die von den Landgrenzen des Kontinents abgesteckte regionale Expansion, um dort Einflussbereiche zu schaffen. Die Seemächte neigen dazu, sich auf die Regionen außerhalb ihrer kontinentalen Landmasse auszudehnen und Einflusszonen auf jedem Kontinent zu bilden, den sie auf dem Seeweg erreichen.
Traditionsgemäß werden Russland und China als Landmächte und die Vereinigten Staaten als Seemacht eingestuft. Die US-amerikanische Nation ist ein historischer Erbe Englands, das lange Zeit souverän die Ozeane beherrschte. Die US-Geopolitik stützt sich daher auf die Taktik der Meeresexpansion, die es diesem Land ermöglicht, in den Regionen außerhalb seines Kontinents zu agieren, auf die ganze Welt einzuwirken und so seine globale Hegemonialmacht zu gewährleisten.
Jedoch stellt sich heraus, dass der Aufstieg der chinesischen Marine diese US-amerikanische Vormachtstellung auf See endgültig beenden kann. Vor Kurzem kehrte die chinesische Flotte von einem Manöver in ihrer Basis zurück und beendete eine lange und gewagte Reise von mehr als 40 Tagen durch verschiedene Regionen des Pazifischen Ozeans - ein Gebiet, über das die Vereinigten Staaten seit langem die Vorherrschaft behaupten. Das Ziel der Mission war die Durchführung eines vollständigen und extrem fortgeschrittenen Militärmanävers, inklusive Rettungstraining, Geschützfeuer, Flugkörpereinsatz und Schiffsbetankung. Zu dem chinesischen Flottekontingent gehörten Schiffe mit unterschiedlicher Ausrüstung, wie der Lenkwaffenzerstörer Hohhot, die Raketenfregatte Xianning, das mit elektronischen Überwachungssystemen ausgerüstete Aufkläriungsschiff Tianshuxing und das Betankungsschiff Chaganhu.
Bei der Übung überquerte China die internationale Datumslinie, die die West-und Ostzonen der Welt abgrenzt. „Die Überquerung der internationalen Datumsgrenze bedeutet, dass die chinesische Marine nicht nur im westlichen Pazifik aktiv ist, sondern dass sie schrittweise in den mittleren und östlichen Pazifik vordringen wird“, meint der Seefahrtexperte Li Jie aus Peking. Seiner Ansicht nach habe China bewiesen, dass es über ausreichende Kapazitäten verfügt, um die Vorherrschaft der US-amerikanischen Marine auf den Ozeanen in den kommenden Jahren zu beenden.
Einige mögen auf den ersten Blick der Ansicht sein, dass China die Vereinigten Staaten mit diesen Handlungen provozieren würde. In Wirklichkeit ist es jedoch eine Reaktion. Die US-amerikanische Überlegenheit zur See hatte über einen langen Zeitraum die falsche Vorstellung geschaffen, dass diese Regionen des Pazifischen und Atlantischen Ozeans eine Art „US-amerikanisches Hoheitsgebiet“ wären. Dies ist ein Mythos, der entkräftet werden muss. Die Ozeane haben ihren eigenen Rechtsstatus, der sie als „internationale Gebiete“ einordnet - Gebiete, über die kein Staat Souveränität beanspruchen kann. Darüber hinaus wird Washingtons Meerespolitik in den letzten Jahren zunehmend aggressiver.
Es ist nicht lange her, dass die USA zwei Aufklärungsdrohnen vom Typ MQ-4C Triton zur Andersen-Luftwaffenbasis in Guam entsandt hatten. Mit dem Einsatz dieser Drohnen verfolgt das US-Militär das Ziel, die militärischen Aktivitäten Chinas und Nordkoreas im Allgemeinen auszukundschaften und die erfassten Überwachungsinformationen sofort an das Pentagon weitergegeben. „Der Anwendung der MQ-4C Triton im Einsatzgebiet der 7. Flotte erhöht die Reichweite der maritimen Patrouille und die Aufklärungskapazitäten der US-Navy im westlichen Pazifik“, erklärte der US-Marinekommandeur Peter Garvin. Diese Drohnen haben eine Reichweite von 13.000 Kilometern und können laut Angaben des Militärmagazins Military Watch bis zu 24 Stunden in der Luft bleiben. Die unerbittliche Arbeit der Drohne in dem friedlichen Gebiet wird mehr Informationen über China und Nordkorea sammeln, als jede andere Technologie, die bisher für die gleiche Aufgabe eingesetzt wurde.
Ebenfalls in diesem Jahr hatten die Vereinigten Staaten ein Kriegsschiff zu den Spratly-Inseln entsandt – einem umstrittenen Gebiet in Südchina – als Reaktion auf die Errichtung chinesischer Militärstützpunkte in der Region. Die Amerikaner nennen dieses Manöver „Freiheit der Schiffahrt“ (engl. „Freedom of Navigation Operations“) und behaupten, es seien friedvolle Schiffsbewegungen. Was aber soll das „friedvolle Interesse“ sein, hochgerüstete Kriegsschiffe in Gebiete zu entsenden, die von einer Regionalmacht in derer kontinentalen Umgebung eingenommen wurden?
Der Unterschied zwischen dem Potenzial zu Wasser und zu Lande ist hier deutlich zu erkennen. China beansprucht die Souveränität über eine Reihe von Inseln in der Nähe seines Staatsterritoriums, die seinen Subkontinent ergänzen. Die USA jedoch versuchen mittels ihrer maritimen geopolitischen Strategien in Gebieten außerhalb ihres kontinentalen Territoriums zu intervenieren sowie als globale Polizei zu fungieren und überwachen dabei die Militäroperationen jedes Landes der Welt.
Was wir erleben, ist Wandel der Grundhaltung Chinas hin zu seiner Geopolitik – von einem Landmacht-Ansatz hin zu einem Plan mit einer stärkereren Aufmerksamkeit für die Meere. Es ist wahrscheinlich, dass Peking sich in kurzer Zeit mit den USA bei der Frage um die Souveränität über die Ozeane auseinandersetzen wird, und dies wird anderen Ländern es ermöglichen, Vorhaben gleicher Art in Angriff zu nehmen und eine multipolare Ordnung auf den Meeren und Ozeanen zu schaffen.
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Titelbild: U.S. Navy/Mass Communication Specialist 3rd Class Kurtis A. Hatcher
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