Von Alexander Männer
Trotz der Corona-Pandemie wurde Mitte März im Rahmen des NATO-Großmanövers "Defender Europe 2021" die Verlegung von US-Truppen aus den Vereinigten Staaten nach Europa eingeleitet und soll im April abgeschlossen werden. "Defender Europe" ist von der NATO als Manöverserie konzipiert und soll jedes Jahr stattfinden, um das neue Level der Militarisierung Europas aufrechtzuerhalten und auszubauen. Demnach ist für die 28.000 Mann starke multinationale Truppe im Mai und Juni der aktive Teil der Militärübungen eingeplant, unter anderem nahe der russischen Grenzen in Südosteuropa und der Schwarzmeerregion. In Russland zeigt man sich diesbezüglich zutiefst besorgt und verweist vor dem Hintergrund des sich im Juni zum 80. Mal jährenden Überfalls Nazi-Deutschlands auf die UdSSR auf eine Provokation sowie auf eine klare antirussische Ausrichtung der Nordatlantikallianz.
Zielsetzung von Defender Europe 2021
Sollte im Gegensatz zum vergangenen Jahr, als "Defender Europe 2020" coronabedingt deutlich eingeschränkt werden musste, dieses Mal alles nach Plan verlaufen, dann wird "Defender Europe 2021" mit etwa 28.000 Soldaten, Hunderten Panzern und Tausenden Kriegswaffen das de-facto größte Militärmanöver der NATO in Europa seit mehr als 25 Jahren. Dabei wird ein Großteil der Truppen aus den USA nach Westeuropa gebracht, von wo man sie dann per Schiene und Straße in den südöstlichen Teil des Kontinents verlegt. Insgesamt werden die Soldaten aus 26 Nationen mobilisiert, darunter neben 21 NATO-Staaten auch aus Bosnien-Herzegowina, dem Kosovo, der Ukraine, Moldawien und Georgien. Sie sollen zwischen Mai und Juni unter anderem mehrere nahezu zeitgleiche Teilmanöver in mehr als 30 Übungsgebieten in 12 Ländern durchführen. Danach erfolgt die Rückverlegung der Soldaten und Fahrzeuge.
Laut Angaben der US-Armee will die NATO in erster Linie die schnelle Verlegbarkeit größerer Truppenteile über den Atlantik und durch Europa trainieren. Dabei geht es um die Verstärkung ihrer Ostflanke, weshalb einige Teilmanöver an den russischen Grenzen stattfinden werden. Im Unterschied zu Defender Europe 2020 liegt der Schwerpunkt in diesem Jahr nicht auf Russlands nordwestlicher, sondern auf seiner südwestlichen Flanke: in Südosteuropa und am Schwarzen Meer. Dies ist der Grund, weshalb die Beteiligung der Ukraine und Georgien eine ganz besondere Bedeutung hat.
Anders als manche Kritiker behaupten, sei Defender Europe 2021 explizit nicht als "Fortführung von Kalter-Krieg-Szenarien gedacht", heißt es aus dem Europa- und Afrika-Hauptquartier der US-Armee. Stattdessen sei das Großmanöver "defensiv ausgerichtet und konzentriert sich darauf, im Bedarfsfall auf Krisen zu reagieren", sowie "auf den Aufbau von Einsatzbereitschaft und Interoperabilität mit einer größeren Anzahl von NATO-Verbündeten und Partnern in einem breiteren Einsatzgebiet".
Gegen Russland gerichtetes Großmanöver angesichts des bittersten russischen Jahrestages?
Selbst wenn die NATO oder die USA bislang offiziell nicht angegeben haben, gegen wen konkret sich die besagten Übungen richten, lassen diverse Stellungnahmen darauf schliessen, dass es gegen Russland geht.
Zuerst hatte der für Defender Europe zuständige US-General Christopher Cavoli im Februar offen mitgeteilt, dass die NATO nach Osten expandiere und dort Infrastruktur "für den neuen Kalten Krieg" benötige. Auch der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat deutlich gemacht, dass man sich im Wettstreit mit Russland und China um Einfluss in Europa, Asien und Afrika befinde und daher vor enormen Herausforderungen stehe.
Darüber hinaus haben die 30 NATO-Außenminister bei einem Treffen Ende März im NATO-Hauptqaurtier in Brüssel erklärt, dass Russland seine Nachbarn "mit seinem aggressiven Verhalten untergräbt und destabilisiert" und "versucht, sich in die Balkanregion einzumischen".
Für die Russen ist diese Strategie des nordatlantischen Militärbündnisses längst offensichtlich. Wie schon im vergangenen Jahr hat das russische Außenamt auch dieses Mal auf eine klare Anti-Russland-Ausrichtung der NATO hingewiesen sowie darauf, dass der eigentliche Zweck des Großmanövers darin liege, große NATO-Truppenkontingente zu den russischen Grenzen zu verlegen. In Moskau betont man, Washington hätte bereits bei Defender Europe 2020 keinen Hehl daraus gemacht, dass Russland als potenzieller Feind betrachtet worden wäre, was der damalige US-Verteidigungsminister, Marc Esper, im Nachhinein sogar bestätigt habe.
Defender Europe 2021 fasse man in Russland jedoch auch deshalb als eine klare Provokation auf, weil die Übungen vor dem Hintergrund des sich am kommenden 22. Juni zum 80. Mal jährenden deutschen Überfalls auf die UdSSR durchgeführt werden sollen.
Aus russischer Perspektive ist die Besorgnis durchaus nachvollziehbar, den genau da, im Osten Europas, hat vor fast 80 Jahren der bis dato größte feindliche Truppenaufmarsch an "Russlands Grenzen" stattgefunden, dem ein noch nie dagewesener "Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg" folgte. Hitler-Deutschland und seiner Verbündeten aus ganz Europa töteten in dem 1418 Tage andauernden Gemetzel etwa 27 Millionen Sowjetbürger und verwüsteten weite Teile der Sowjetunion.
Wie bereits erwähnt, stellt die Teilnahme von Georgien und der Ukraine bei Defender Europe 2021 eine Besonderheit dar. Es handelt sich um ehemalige Sowjetrepubliken, die sich zwar unlängst unter die Schirmherrschaft der USA begeben hatten, nun aber zum ersten Mal gemeinsam mit anderen NATO-Staaten bei einem Großmanöver für den Ernstfall trainieren sollen, wobei der Ernstfall offenbar nur ein konkretes Szenario vorsieht: Ein US-geführter Krieg gegen Russland in Osteuropa. Für Russland und seine Bürger ist die Teilnahme Georgiens und der Ukraine deshalb schmerzlich, weil ihren Streikräften nun Enkel und Urenkel derer gegenüberstehen, die 1941 gemeinsam mit allen anderen Sowjetvölkern gegen die Nazi-Tyrannei in den "Großen Vaterländischen Krieg" gezogen waren.
Für die Russen ist ebenfalls bitter, dass auch die Deutschen nicht nur an dem diesjährigen NATO-Großmanöver teilnehmen, sondern auch bei vielen anderen antirussischen Aktionen der NATO und USA mitwirken, anstatt sich dem Ganzen zu widersetzen und ihrer Verwantwortung bewusst zu werden. Deutschland hat sowohl die Millionen Kriegsopfer auf sowjetischer Seite zu verantworten als auch die derzeitige Kriegshetze gegenüber Russland, die in Politik und Medien weiter zunimmt. Ungeachtet dessen ist die Bundeswehr also mit 430 Soldaten an Defender Europe beteiligt, vor allem durch das Erbringen von Unterstützungsleistungen beim Transit der Streitkräfte sowie der Verlegung von US-Soldaten und Material aus den USA nach Europa. Deutschland stellt Bundeswehrangaben zufolge seine Häfen, Flughäfen und Truppenübungsplätze bereit und fungiert aufgrund seiner "geostrategischen Lage im Herzen Europas" erneut als logistische Drehscheibe.
Die Stimmung in der russischen Bevölkerung in Bezug auf Defender Europe ist eindeutig. Der russische Politiker und Leiter der regionalen national-kulturellen Autonomie der Krim, Roman Chegrinets, hat diese wohl am besten wiedergegeben: "Es hat bereits solche Augenblicke in unserer Geschichte gegeben, allerdings endeten solche Bedrohungen 1812 und 1941 für die Aggressoren in der Katastrophe", so Chegrinets. Ihm zufolge sollten NATO und andere "Provokateure" stets daran denken, dass der Erfolg bei militärischen Unternehmungen gegen Russland unwahrscheinlich ist, da der "russische Bär seine Bärenhöhle bis zum letzten verteidigen wird" und danach zudem "Ordnung im Nachbarwald schaffen könnte."
Corona-Pandemie – kein Hindernis für die NATO
Inwiefern die NATO-Führung oder die Regierung in Washington in Bezug auf Russland Wert auf historische Erfahrungen legen, geht aus ihren Erklärungen nicht hervor. Jedoch wird die Bedeutung von Defender Europe von ihnen offenbar dermaßen hoch eingeschätzt, dass alle Übungen sogar trotz der Corona-Pandemie planmäßig durchgeführt werden sollen.
Europa jedoch befindet sich im Frühling 2021 in einer extrem schwierigen Corona-Lage. Die Infektionszahlen nehmen wieder zu und bei den Impfungen stehen Deutschland, Frankreich, italien und andere EU-Staaten vor einem Desaster, da die Corona-Vaccinen in der EU selbst für Risikogruppen weiterhin Mangelware bleiben. Und während immer mehr europäischen Staaten ihrer Bürger aus Gründen der "Sicherheit" in den nächten Lockdown schicken, sollen derartige Corona-Maßnahmen für Tausende Soldaten nicht gelten, die sich von einem europäischen Land zum anderen frei bewegen werden. Die Truppen bekommen nämlich einen von der US-Armee ausgestellten "Covid-Pass", wonach sie "engen Maßnahmen zur Prävention und Abschwächung des Covid" unterliegen.
Ob ein Großmanöver an Russlands Grenzen für Europa in der aktuellen Situation so hilfreich ist, ist zu bezweifeln. Zumal Russland nicht Feind, sondern Partner der EU sein will, auch im Kampf gegen die Pandemie. So beliefern die Russen zum Beispiel bereits mehrere EU-Staaten mit dem russischen Corona-Impfstoff “Sputnik V”. Abgesehen davon hatte Moskau Brüssel mehrfach vorgeschlagen, trotz der bestehenden politischen Differenzen zwischen der EU und Russland eine Kooperation aufzubauen, um das Coronavirus gemeinsam zu besiegen. Eine Annäherung mit Russland kommt für die EU bislang aber nicht in Frage.
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