Von Alexander Thiele
Jetzt ist es also tatsächlich passiert: Das polnische Verfassungsgericht verneint in einem zentralen Bereich die Bindung an Entscheidungen des EuGH. Mit dem prinzipiellen Vorrang des Europarechts steht damit eine der fundamentalen Säulen der europäischen Integration in Frage. Ist der Vorgang vergleichbar mit dem, was das deutsche Bundesverfassungsgericht im PSPP-Urteil getan hat? Natürlich nicht. Mehrfach ist bereits (zu Recht) darauf hingewiesen worden, dass das Bundesverfassungsgericht einerseits den Vorrang des Europarechts nicht generell in Frage stellt und andererseits in der konkreten Sache sogar eher mehr statt weniger gerichtliche Kontrolle durch den EuGH einfordert. Gleichwohl ging es auch in diesem Verfahren um die Reichweite des Vorrangs, und auch hier wurde im Ergebnis einer Entscheidung des EuGH (nach weithin vertretener Ansicht aus nicht überzeugenden Gründen) die Gefolgschaft verweigert. Dass die soeben angedeutete Differenzierung zumindest in der öffentlichen (politischen) Debatte keine wirkliche Rolle spielt, wurde denn auch bei der Verkündung der gestrigen Entscheidung deutlich, die an mehreren Stellen explizit auf das Bundesverfassungsgericht Bezug nahm und teilweise sogar auf deutsch erfolgte.
Dass diese Entwicklung im Hinblick auf Rechtsstaatsfragen im Allgemeinen und den Vorrang des Europarechts gerade der Kommission Sorge bereiten muss, kann niemanden überraschen. Die Kommission ist Hüterin der Verträge. Sie soll und muss für deren Einhaltung in den Mitgliedstaaten Sorge tragen. Der prinzipielle Vorrang des Europarechts gehört nach nicht ernsthaft bestrittener Ansicht zu den Prinzipien, deren Geltung die Kommission in diesem Zusammenhang sicherstellen soll.
Dementsprechend wird denn auch schon länger ein scharfes Vorgehen gegen Polen und auch Ungarn eingefordert. Die Europäische Union, so heißt es, könne sich ein solches Verhalten nicht gefallen lassen. Mit der gleichen Vehemenz wird allerdings von einigen und überaus prominenten Stimmen die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland kritisiert.
Nüchtern betrachtet gibt es durchaus gute Gründe, das Vorgehen der Kommission zu kritisieren. Gerade aus politischer Perspektive erscheint es auch aus unserer Sicht nicht sinnvoll auf diesem Wege weiter Öl in das Feuer eines Streites zu gießen, der für die Praxis im Prinzip (vorerst) beigelegt ist – anders als der Streit mit Polen. Andererseits gibt es durchaus Stimmen, die – etwa gestützt auf Vorstellungen des „legal pluralism“ – das Vorgehen der Kommission begrüßen. Es müsse nunmehr darum gehen, mit dem EuGH auch den zweiten Akteur in diesem Streit zu hören und seinen Anspruch auf unbedingten Vorrang noch einmal zu formulieren, um gewissermaßen den Gleichstand wieder herzustellen. Schon unmittelbar nach der Entscheidung des 5. Mai 2020 fanden sich hier auf dem Verfassungsblog Stimmen prominenter Staats- und EuroparechtslehrerInnen, die ein Vertragsverletzungsverfahren einforderten (etwa hier oder hier). So abwegig ist das alles also nicht, was die Kommission hier tut.
Das soll an dieser Stelle nicht vertieft werden. Was man jedoch zumindest als unstrittig ansehen müsste, ist die Dilemmasituation, in der sich die Kommission aktuell befindet. Sie soll einerseits effektiv gegen Polen (und perspektivisch auch Ungarn) vorgehen, darf dabei aber nicht den Eindruck erwecken, im Hinblick auf Vertragsverstöße zwischen den Mitgliedstaaten zu differenzieren. Insofern kann die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland durchaus als geschickt bewertet werden: Dieses muss ja am Ende keineswegs vor dem EuGH landen, es kann sich über Monate hinziehen, ohne dass es jemals zu einer Klage kommt, während die tatsächlich brandgefährliche Situation in Polen parallel um so schneller und effektiver mit allen Mitteln des Europarechts bekämpft werden kann.
Angesichts dieser komplexen Ausgangslage mutet es doch befremdlich an, in welch drastischer Form einige prominente Staatsrechtslehrer das Vorgehen der Kommission kommentieren. So spricht Klaus Ferdinand Gärditz in der FAZ von „einem Staatsstreich von oben“, den die Kommission hier einleiten wolle. Und Andreas Voßkuhle, maßgeblich an der umstrittenen Entscheidung beteiligt, unterstellt der Kommission als tiefere Motivation hinter dem Verfahren sogar den Versuch „auf kaltem Wege“ einen Bundesstaat zu errichten und warnt anschließend sogar vor einem „kollusiven Zusammenwirken“ europäischer Institutionen, vornehmlich der Kommission und dem EuGH, da deren Motivation anders schlicht nicht zu erklären sei. Den EuGH bezeichnet er in dieser Frage zudem als völlig „befangen“.
Nun erweist sich schon die Aussage der Befangenheit als ziemlich weit hergeholt. Sie wurzelt letztlich darin, dass der EuGH hier nicht nur über den Vorrang, sondern auch über eigene Kompetenzen entscheidet. Dass Gerichte die Grenzen der eigenen Zuständigkeit prüfen, ist offenkundig keine Seltenheit und in der Natur der Sache begründet – das Bundesverfassungsgericht tut dies ständig und hat sich anfangs sogar selbstständig zum Verfassungsorgan aufgeschwungen. Zudem: Heißt das, dass das Nichtbefolgen von EuGH-Urteilen in der EU generell sanktionslos bleiben muss, weil es in diesen Fällen keinen unabhängigen Gerichtshof gibt? Dass Polen diese Argumentation aufgreifen wird, dürfte zumindest ziemlich sicher sein. Im Übrigen fragt man sich zwangsläufig, ob nicht möglicherweise Andreas Voßkuhle selbst derjenige ist, der als kommentierender Experte und Verfassungsrechtsprofessor bei solchen Äußerungen in Anlehnung an seine Wortwahl „befangener gar nicht sein könnte“.
Voßkuhle ist nicht länger Mitglied des Bundesverfassungsgerichts. Aber erstens war er es bis vor kurzem und hat als solches an der jetzt vom EuGH ggf. zu untersuchenden Vertragsverletzung wie auch an der anschließenden PR-Kampagne zu ihrer Verteidigung höchstpersönlich und in exponierter Stellung mitgewirkt. Und zweitens hat er die Verhaltensleitlinien unterschrieben, die sich das Gericht 2017 selbst gegeben hat und die aktive wie ausgeschiedene Richter_innen darauf verpflichten, bei der Kritik an internationalen Gerichten Zurückhaltung walten zu lassen.
Gravierender ist freilich der Umstand, dass die Äußerungen in beiden Fällen dem Terrain von Verschwörungstheorien bedenklich nahe kommen. Für ein „kollusives Zusammenwirken“ von Kommission und EuGH, für Voßkuhle das weit und breit einzig denkbare Motiv für das Vertragsverletzungsverfahren, gibt es keinerlei Anhaltspunkt. Was die Kommission motiviert hat, lässt sich im Gegenteil, wie dargelegt, durchaus nachvollziehen (was nicht heißt, dass man diese Motivation gut heißen muss). Wer wie Gärditz für die Einleitung eines förmlichen Vertragsverletzungsverfahrens, in dem es der Sache nach um den seit Jahren im Prinzip etablierten Vorrang des Europarecht geht, wie er seit Jahrzehnten in Vorlesungen gelehrt wird, den Begriff eines „Staatsstreichs“ wählt, muss sich fragen lassen, welche Belege er für die darin implizierte Umsturzabsicht der Kommission anführen kann. Zumal die Prüfung, inwieweit Deutschland hier den Vorrang missachtet hat, nicht ernsthaft als Staatsstreich gewertet werden kann, was sich eben auch aus Gärditz‘ weiterem Beitrag selbst ergibt: Er zeigt darin Wege auf, wie der EuGH diese Rechtskrise unter Rückgriff auf Art. 4 Abs. 2 EUV einer wohltuend sachlichen Lösung zuführen könnte. Dazu, möchte man ergänzen, muss er aber doch erstmal gefragt werden. Wie soll das gehen, wenn schon die Einleitung eines solchen Verfahrens als Staatsstreich gesehen wird?
Die Lage ist komplex, und das Dilemma der Kommission ist real. Darauf sollte man sich unter Verfassungsrechtswissenschaftler_innen jedenfalls einigen können.Dieses Anerkenntnis klingt allenfalls in Gärditz Ausführungen an. An einer weiteren Eskalation des Konflikts im europäischen Verfassungsgerichtsverbund kann niemand Interesse haben – ausgenommen die Akteure in Polen und Ungarn.
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Der Artikel „Ein Dilemma, kein Staatsstreich“ von Alexander Thiele und Katrin Kappler ist ursprünglich auf dem Portal „Verfassungsblog“ erschienen und wird unter der Lizenz Creative Commons BY-SA 4.0 veröffentlicht.
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