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Die UN als globaler „Streitraum“. Zur Aktualität von Dag Hammarskjölds Erbe

Von Ben Christian und Nicole Deitelhoff

Dag Hammarskjöld wurde am 29. Juli 1905 im schwedischen Jönköping geboren. Die Hammarskjölds waren zu dieser Zeit eine bekannte Adelsfamilie in Schweden, aus der über Generationen hinweg leitende Beamte und hohe Staatsdiener hervorgegangen waren. Dass Dag nach einem Studium mit Bestnoten und einem Doktortitel der Universität Uppsala ebenfalls in den Staatsdienst eintrat, kam deshalb – vermutlich für alle Beteiligten – wenig überraschend. Mit nur 27 Jahren wurde Hammarskjöld Staatssekretär im Finanzministerium und war, auch aufgrund seines unermüdlichen Arbeitseinsatzes, kurze Zeit später in der gesamten schwedischen Administration als „some kind of wonderboy“1 bekannt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg widmete sich Hammarskjöld zunehmend der internationalen Politik, vertrat sein Land beispielsweise 1947 beim Ausschuss für den Marshall-Plan in Paris. Auch auf dem internationalen Parkett machte sich das „Wunderkind“ aus Schweden schnell einen Namen und wurde kurze Zeit später zum stellvertretenden Außenminister ernannt. Im Jahr 1953 war Dag Hammarskjöld auf der internationalen Bühne deshalb kein völlig Unbekannter mehr, trotzdem kam seine Nominierung zum UN-Generalsekretär überraschend. Hammarskjöld selbst hatte nicht mit einer Nominierung gerechnet, und dachte zunächst an einen April-Scherz, als er von einem Journalisten mitten in der Nacht angerufen und um einen Kommentar gebeten wurde. Brian Urquhart, Hammarskjölds langjähriger Mitarbeiter und Biograph, spricht gar von reinem Zufall: „They went searching around all over the place and, by pure accident, picked up somebody who was exactly the opposite to what everybody wanted. They thought they’d got a safe, bureaucratic civil servant, non-political – and they got Hammarskjöld.”2

Mit nur 47 Jahren wurde Hammarskjöld am 7. April 1953 zum – bis heute jüngsten – UN-Generalsekretär ernannt; und 1957 einstimmig für eine zweite Amtszeit wiedergewählt. Der Rest ist – wie man so schön sagt – Geschichte: Hammarskjölds erfolgreiche Verhandlungen mit China zur Freilassung amerikanischer Piloten; seine gelungene Deeskalation der Suez-Krise und die Aufstellung der ersten bewaffneten Peacekeeping-Mission; die heikle (und am Ende nicht erfolgreiche) Intervention in der gerade unabhängig gewordenen Republik Kongo; und nicht zuletzt sein – bis heute nicht endgültig aufgeklärter – Tod bei einem Flugzeugabsturz am 18. September 1961 in Nordrhodesien.3 In seinen acht Jahren als Generalsekretär wurde Hammarskjöld zum „living symbol“ und prägenden Gesicht der Vereinten Nationen.4 Er bekam posthum den Friedensnobelpreis verliehen, John F. Kennedy adelte ihn als „greatest statesman of our century”, und auch das nach seinem Tod erschienene spirituelle Tagebuch „Markings“, welches international zum Bestseller wurde, befeuerte Hammarskjölds weltweite Popularität.5

Über all das und noch viel mehr wurde bereits ausführlich geschrieben: Hammarskjölds Leben und Wirken füllt ganze Bibliotheksregale.6 Wir wollen deshalb den Blick nach vorne richten und anlässlich seines 60. Todestages fragen, inwiefern Hammarskjölds Erbe heute noch von Relevanz ist. Was lässt sich von Hammarskjöld mit Blick auf die aktuellen Herausforderungen lernen, mit denen die Vereinten Nationen zurzeit konfrontiert sind?

Dag Hammarskjölds „UN-Erbe“

Es ist weder möglich noch unsere Absicht, den vielen Innovationen, die Dag Hammarskjöld in seiner Zeit als UN-Generalsekretär angestoßen hat – darunter etwa die Entwicklung des bewaffneten Peacekeeping7 – hier auch nur ansatzweise gerecht zu werden. Wir greifen stattdessen einen Grundgedanken von Hammarskjöld heraus, den wir als zentral für Überlegungen zur Zukunft der UN erachten, nämlich sein Verständnis der Vereinten Nationen als globaler Streitraum. Dieses Verständnis spiegelt sich u.a. in den folgenden zwei Themenkomplexen wider, die beide bis heute eng mit dem Namen Hammarskjöld verbunden sind:

(1) „For all the others“ – gleichberechtigte Perspektiven in einer ungleichen Welt

Der erste Aspekt betrifft das Verhältnis der UN zu den geopolitischen Großmächten. Hammarskjöld vertrat mit Verve die Position, dass seine Loyalität als UN-Generalsekretär einzig und allein den Zielen der UN-Charta gelte. Unparteilichkeit war für Hammarskjöld das höchste Gut, jedoch verstand er diese nicht etwa als passive „Neutralität“, sondern als Auftrag und Verpflichtung zur aktiven Verteidigung der Werte der Charta.8 Sah er diese von den Großmächten verletzt, positionierte er sich ohne Zögern auch gegen die USA oder die Sowjetunion.9 Er zeigte dabei „klare Kante“ und versuchte so, die UN aus den Fängen bzw. der Lagerbildung des Kalten Krieges herauszuhalten. Darüber hinaus machte er sich im Verlauf seiner Amtszeit immer mehr zum Anwalt der kleinen und mittleren Staaten in der UN. In seiner berühmt gewordenen Antwort auf eine harte persönliche Attacke des sowjetischen Staatschefs Nikita Chruschtschow formulierte Hammarskjöld deutlich, für wen die UN aus seiner Sicht vor allem da seien: „It is not the Soviet Union or, indeed, any other Big Powers which need the United Nations for their protection. It is all the others. […] I shall remain in my post during the term of my office as a servant of the Organization in the interests of all those other nations as long as they wish me to do so”.10 Hammarskjöld vertrat demnach sehr entschieden die Position, dass globale Konflikte, die alle betreffen, auch mit allen diskutiert werden müssen. Die Vereinten Nationen waren für ihn der Ort, an dem alle Staaten – ungeachtet der globalen Machtverteilung – gleichberechtigt ihre jeweiligen Positionen und Perspektiven einbringen können sollten.

(2) Stille Diplomatie – Vertrauensbildung im Konflikt

Der zweite Aspekt steht in Verbindung mit der stets aktuellen Frage, wie aufkommenden Konflikten zwischen Staaten präventiv begegnet werden kann. Hammarskjöld praktizierte zu seiner Zeit oftmals eine „stille“ bzw. vertrauliche Diplomatie. Im Unterschied zur „öffentlichen Diplomatie“ (etwa in der UN-Generalversammlung; Pressekonferenzen; etc.) zielt diese auf das vertrauliche – nicht jedoch „geheime“ – Gespräch zwischen Staatschefs von Angesicht zu Angesicht ab. Hammarskjöld sah im persönlichen Austausch, basierend auf einem gegenseitigen Vorschuss an Vertrauen, sowie im hartnäckigen Suchen nach gesichtswahrenden Lösungen eine große Chance, um Konflikte gewaltfrei und präventiv zu lösen. Seine Verhandlung mit dem chinesischen Außenminister Tschou En-Lai, in der es um die Freilassung von inhaftierten amerikanischen Piloten ging, gilt als beispielhaft für diese Form der stillen Diplomatie. Im Kern geht es dabei um Vertrauensbildung im Konflikt: Um zu vermeiden, dass sich ein Konflikt zwischen zwei Mitgliedsstaaten auf öffentlicher Bühne hochschaukelt und immer weiter eskaliert, vermitteln die Vereinten Nationen direkt zwischen den Parteien. In vertraulichen Gesprächen – und in Abwesenheit öffentlicher Schuldzuweisungen – baut sich so langsam gegenseitiges Vertrauen zwischen den Konfliktparteien auf.11 Für Hammarskjöld waren die Vereinten Nationen folglich nicht nur der Ort, an dem alle Mitgliedsstaaten ihre Perspektiven gleichberechtigt einbringen und Konflikte austragen können, sondern auch der Akteur, der in der Lage ist, zwischen einzelnen Mitgliedsstaaten vertraulich zu vermitteln.

Gestern, heute, morgen: Die UN als globaler „Streitraum“

In diesen zwei Elementen – der UN „for all the others“ und der „stillen Diplomatie“ – steckt Hammarskjölds Verständnis der Vereinten Nationen als globaler „Streitraum“. Dieser Streitraum ermöglicht sowohl die öffentliche Austragung von Konflikten zu Fragen der Weltordnung, als auch vertrauliche (und vertrauensbildende) Gespräche zwischen zwei einzelnen Konfliktparteien. Hammarskjöld hat das früh verstanden: Er war nicht nur ein begnadeter Diplomat, sondern auch ein Meister darin, die UN in ihrer (potenziellen) Rolle und Funktion zu erkennen. Dabei hatte er stets fest im Blick, dass die UN „für alle“ da sein müssen – und einen Raum darstellen, in dem Interessenskonflikte nicht geleugnet, sondern konstruktiv ausgetragen werden können: „We can look at the Organization as a body where ideologies are permitted to clash inside the wider framework of a fundamental unity of purpose for peace.”12 Die UNO vertritt einen allgemeinen Willen, keinen partikularen: Sie muss deshalb Differenzen zulassen und gleichzeitig „working compromises“ ermöglichen – sie muss ein globaler Streitraum sein.

Den vollständigen Artikel können Sie hier nachlesen.

Der Beitrag muss nicht unbedingt die Meinung der Redaktion widerspiegeln.

Titelbild: ©  imago images/Xinhua

Zu den Autoren:

Ben Christian ist Doktorand im Programmbereich „Internationale Institutionen“ am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK). Er forscht zu internationalen Organisationen, insbesondere den Vereinten Nationen, sowie zur deutschen Entwicklungszusammenarbeit.

Nicole Deitelhoff ist Geschäftsführendes Vorstandsmitglied am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) und Leiterin der Programmbereiche „Internationale Institutionen“ und „Transnationale Politik“. Sie forscht zu Kontestation und Krisen von Institutionen und Normen, politischer Herrschaft, Opposition und Dissidenz sowie Demokratie und Zusammenhalt.

Quellen und Anmerkungen:

1 Zitiert in: Manuel Fröhlich, 2002, Dag Hammarskjöld und die Vereinten Nationen: Die politische Ethik des UNO-Generalsekretärs, München: Schöningh, S. 120.

2 United Nations Oral History Collection, Interview mit Brian Urquhart, 30. Mai 1984.

3 Der Fall ist bis heute ungeklärt. Während die ersten Untersuchungen von einem Flugzeugabsturz ausgingen, diskutieren neuere Berichte auch die Möglichkeit eines gezielten Angriffs auf das Flugzeug. Vgl. etwa den neuesten UN-Bericht von 2019: https://undocs.org/A/73/973. Die ebenfalls 2019 erschienene Dokumentation „Cold Case Hammarskjöld“ des Regisseurs Mads Brügger legt den Schluss nahe, dass das Flugzeug von einem belgischen Piloten im Auftrag der Katanga-Rebellen abgeschossen wurde.

4 Sein Nachfolger als UN-Generalsekretär, U Thant, beschrieb die Fokussierung auf (und das Vertrauen in) Dag Hammarskjöld mit den folgenden Worten: „It became a common practice, when any difficult situation came along, for the major organs to say in so many words, ‘Leave it to Dag.’” (zitiert in Roger Lipsey, 2013, Hammarskjöld: A Life, Ann Arbor: University of Michigan Press, S. 319)

5 Martin Lipsey spricht – mit Blick auf Markings – von einer „dual legacy“ Hammarskjölds. Für ihn war Hammarskjöld zum einen „the outstanding diplomat and diplomatic thinker of his era” und andererseits ein „religious author, a sensitive explorer of human identity under modern conditions” (2013: 2).

... und zu den anderen Fußnoten

Der Artikel „Die UN als globaler „Streitraum“. Zur Aktualität von Dag Hammarskjölds Erbe“ von Ben Christian und Nicole Deitelhoff ist ursprünglich auf dem Portal „PRIF Blog“ erschienen und wird unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-ND 4.0 veröffentlicht.

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