Von Matthias Monroy
Einige tausend Geflüchtete haben in den vergangenen Wochen versucht, die belarussische Grenze mit Litauen und Polen zu überqueren, um anschließend in Ländern wie Deutschland Asyl zu beantragen. Die beiden osteuropäischen Staaten haben darauf mit dem eiligen Aufbau von Zäunen und einer martialischen, auch militärischen Aufrüstung reagiert. Litauen hat als erster EU-Staat den europäischen Krisenreaktionsmechanismus (IPCR) im Bereich Migration aktiviert. Polen setzt allein auf Maßnahmen ohne Beteiligung der EU, obschon der Ministerpräsident Mateusz Morawiecki „Europa, unser gemeinsames Haus“ in Gefahr, sieht. Großbritannien und Estland bieten der Regierung in Warschau deshalb die Entsendung von Truppen an.
Der Ratspräsident Charles Michel und die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bezeichnen Migrant:innen als „Waffe“. Dieses Framing übernimmt der US-Staatssekretär Antony Blinken und droht, die Regierung Washington werde den Druck auf den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko aufrechterhalten, solange Belarus „den Frieden und die Sicherheit in Europa untergräbt “. Am 18. November zeigten sich auch die G7-Staaten solidarisch mit Polen, Litauen und Lettland und verurteilten „die provokative Nutzung der irregulären Migration als hybride Taktik“.
12 Regierungen und Frontex-Direktor für neue Schengen-Regeln
Auch die Europäische Kommission, der Rat und zahlreiche EU-Mitgliedstaaten haben die versuchten Grenzübertritte eine „hybride Bedrohung“ genannt, diese sei orchestriert von der Regierung in Minsk. So erklärte auch der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis, Lukaschenko habe sich „von einer Strategie inspirieren lassen, die bereits erprobt wurde und an den Grenzen Europas Chaos und Elend verursacht hat“. Mitsotakis meint die Türkei, die im Februar 2020 vorwiegend syrische Geflüchtete massenhaft an die türkisch-griechische Landgrenze gebracht hatte. Von der Leyen lobte Griechenland damals als „europäisches Schild“ gegen irreguläre Migration, die EU-Grenzagentur entsandte daraufhin erstmals ihre neue „Ständige Reserve“ mit robuster Bewaffnung an den Grenzfluss Evros.
Anfang Oktober haben zwölf Regierungen der EU-Mitgliedstaaten ein Schreiben an die EU-Kommission gerichtet und gefordert, den Schengener Grenzkodex für „Fälle eines hybriden Angriffs“ zu ändern. Länder wie Ungarn, Zypern, Österreich und die baltischen Staaten wollen neue Schengen-Regeln, um einen „künstlich erzeugten Zustrom irregulärer Migranten“ durch einen Drittstaat zu kontern. Am 1. Dezember will die Kommission dazu einen Vorschlag vorlegen.
In einem Interview mit der Zeitung „WELT“ verlangt auch der Frontex-Direktor Fabrice Leggeri Klarheit für Missionen, in denen EU-Grenztruppen mit solchen „hybriden Bedrohungen“ konfrontiert sind. Leggeri verweist dazu auf die griechische Regierung. In einer Videobotschaft sprach deren nationaler Sicherheitsberater bereits vor über einem Jahr von einem „hybriden Krieg“ der Türkei gegen Griechenland, die Regierung in Ankara nutze dabei nicht-konventionelle Einheiten, „einflussreiche Firmen“ und Falschinformationen.
„Schwachstellen der EU zum eigenen Vorteil ausnutzen“
Die als „hybride Bedrohungen“ bezeichneten Taktiken sind im militärischen Bereich nichts Neues. Die Kommission definiert sie als Angriffe durch staatliche oder nichtstaatliche Akteur:innen die versuchen, die „Schwachstellen der EU zu ihrem eigenen Vorteil auszunutzen“. Das kann diplomatische, militärische, wirtschaftliche und technologische Mittel beinhalten, ohne dass dabei die Schwelle zur formellen Kriegsführung überschritten wird. Staaten können sich dabei auch sogenannter Stellvertreterakteure („proxy actors“) bedienen, die dann als Vehikel für „hybride Bedrohungen“ dienen.
Auf EU-Ebene tauchte der Begriff „hybride Bedrohungen“ erstmals 2015 auf. Ein Jahr nach der Krim-Krise, in deren Rahmen Russland die ursprünglich zur Ukraine gehörende Halbinsel besetzt und nicht gekennzeichnete Truppen in die Ostukraine entsandt hatte, suchte der Rat nach Reaktionen auf die Intervention. Der Auswärtige Dienst installierte ein Strategisches Kommunikationsteam Ost (StratCom East), das russische „Desinformations- und Propagandamaßnahmen“ aufspüren und durch eigene Narrative kontern soll. Laut dem EU-Aktionsplan gegen Desinformation verfügt das Zentrum, das sich jetzt auch mit China befasst, über 55 Mitarbeiter:innen. Alle EU-Mitgliedstaaten haben für die Zusammenarbeit eine Kontaktstelle benannt, in Deutschland ist dies das Auswärtige Amt.
Zuvor hatte bereits die NATO ein Stratcom Center of Excellence in Riga aufgebaut, auch dort zählen „Gegenerzählungen“ in Reaktion auf „kremlfreundliche Narrative“ zu den Aufgaben, außerdem werden in Riga gemeinsame Übungen und Simulationen der NATO-Staaten ausgearbeitet.
Ab 2016 gilt Migration „hybride Bedrohung“
Im Mai 2015 stand das Thema auf der Agenda des Rates für Außenbeziehungen in Brüssel, an dem auch die EU-Verteidigungsminister:innen teilnahmen. Die damalige Bundesregierung hatte dazu Ursula von der Leyen und den Außenminister Frank-Walter Steinmeier entsandt. Einen Monat später haben die EU-Mitgliedstaaten „hybride Bedrohungen“ erstmals in Schlussfolgerungen des Rates zur erneuerten Strategie der inneren Sicherheit erwähnt. Dafür setzen sich vor allem die baltischen Staaten und Polen ein, während etwa die griechische Regierung dem Begriff wegen seiner militärischen Konnotation ablehnend gegenüberstand.
Spätestens ab 2016 haben die EU-Mitgliedstaaten Migration direkt mit „hybriden Bedrohungen“ in Verbindung gebracht. In Schlussfolgerungen des Rates zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik mahnte der Rat zur Schaffung weiterer Synergien zwischen der zivilen und der militärischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, darunter in den Bereichen „illegale Migration, hybride Bedrohungen, Grenzmanagement“. Dabei sollten auch die Agenturen Europol und Frontex sowie die nicht zur EU gehörende Europäische Gendarmerietruppe eingebunden werden.
Konkreter wurden die Niederlande, Slowakei und Malta in ihrem Achtzehnmonatsprogramm für den Ratsvorsitz in den Jahren 2016 und 2017, das „hybride Bedrohungen“ an erster Stelle der Herausforderungen für die Europäische Verteidigungsagentur nennt. Die drei Vorsitze versprachen darin, „auf eine bessere Verknüpfung von Migration, Sicherheit und Außenpolitik“ zu achten.
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Titelbild (Archiv): Eine Polizeiübung in Thüringen, 20.Oktober 2021 © Bodo Schackow/dpa
Der Artikel „Europäische Union und NATO: Militär, Polizei und Geheimdienste gegen „hybride Bedrohungen“ von Matthias Monroy ist ursprünglich auf der Portal „Netzpolitik.org“ erschienen und wird unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0 veröffentlicht.
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