Von Juan J. Paz y Miño Cepeda, Braulio Carbajal
Die Welt steuert auf eine neue und unvermeidliche Multipolarität zu, in der sowohl Russland als auch China ihre eigenen Positionen haben. Unterdessen machen die USA und die Nato Druck, um Lateinamerika unter ihre Kontrolle zu bringen.
Die 1821 gegründete George Washington Universität ist eine der renommiertesten Universitäten der Welt und anerkannt für ihre internationalen Studien. Am 26. Mai war US-Außenminister Antony Blinken dort zu Gast, ein profilierter Funktionär mit viel Erfahrung in sicherheits- und außenpolitischen Fragen, der eine wichtige Rede mit dem Titel "Die Haltung der Regierung gegenüber der Volksrepublik China" hielt, die offensichtlich mit genauen Ideen und Konzepten vorbereitet wurde.
Mehrere Analysten haben den Inhalt dieser Rede untersucht. Darin wird betont, dass die USA es ernst meinen mit der Verteidigung dessen, was sie jetzt "eine auf Regeln basierende internationale Ordnung" nennen. Diese Ordnung sei diejenige, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist und deren Grundlagen in der UN-Charta und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu finden sind, die wesentliche Konzepte wie Selbstbestimmung, Souveränität und friedliche Beilegung von Streitigkeiten verankern.
Nach diesen Kriterien versuchen die USA, die internationale Ordnung nicht nur zu erhalten, sondern zu modernisieren. Und diese Ordnung sei "ernsthaft und nachhaltig herausgefordert": Zum einen, weil der russische Präsident Wladimir Putin durch seinen Krieg in der Ukraine eine "klare und aktuelle Bedrohung" darstelle; und zum anderen, weil die "langfristige Herausforderung" tatsächlich die Volksrepublik China sei. Selbstverständlich haben die USA ihre gewichtigen geostrategischen Gründe um zu versuchen, ihre Hegemonie aufrechtzuerhalten.
Blinkens Vision muss zusammen mit ihrer militärischen Entsprechung verstanden werden, das heißt mit der Vision, die Viersternegeneral Laura Richardson, Befehlshaberin des US Southern Command, am 24. März vor dem Senate Armed Services Committee präsentierte. Dort erklärte sie unverblümt, dass China die "primäre Bedrohung" und Russland eine "sekundäre" Bedrohung sei; dass China in Lateinamerika "expandiert", während Russland durch seine Beziehungen zu Venezuela, Kuba und Nicaragua "die Instabilität verstärkt"; und dass eine "umfassende Abschreckungsstrategie" (Maßnahmen aus allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens) durchgeführt werde, um diesen "negativen" Einflüssen, die den Einfluss der USA gefährden, entgegenzuwirken.
Wie man feststellen kann, wird Lateinamerika in diesem verwickelten und komplexen Geflecht zum Bestandteil der von den USA formulierten Strategie, die ausdrücklich "unsere Verbündeten und Partner" auf die Förderung "einer gemeinsamen Vision für die Zukunft" ausrichten will, wie es in der Rede von Minister Blinken heißt; und "unsere gemeinsame Nachbarschaft", wie die Befehlshaberin des Southcom sagt, zu "unserer besten Verteidigung" machen will. Die Region wird also nunmehr allen Arten von Druck und Maßnahmen für eine solche Ausrichtung ausgesetzt sein.
Es gibt keine großen Schwierigkeiten mit den rechten und neoliberalen lateinamerikanischen Regierungen, die sich, wie bereits in anderen historischen Momenten sichtbar, in Schlüsselbereichen der internationalen Beziehungen dem unterordnen, was die USA vorschreiben. Aber das Problem, das sich dem Koloss des Nordens stellt, ist die Haltung der fortschrittlichen, demokratischen und linken Regierungen, die nicht bereit sind, sich manipulieren zu lassen.
Die lateinamerikanischen Stellungnahmen rund um den 9. Amerikagipfel, der von den USA vom 6. bis 10. Juni in Los Angeles einberufen wurde, brachten dies zum Ausdruck: Mexiko war mit Präsident Manuel López Obrador der erste, der die Forderung nach einem Ausschluss Kubas, Nicaraguas und Venezuelas in Frage stellte. Die Staatsoberhäupter Alberto Fernández (Argentinien), Luis Arce (Bolivien), Xiomara Castro (Honduras) und zudem die Länder der Karibischen Gemeinschaft Caricom schlossen sich an. Ein Treffen der Gemeinschaft lateinamerikanischer karibischer Staaten (Celac)1 unter Beteiligung aller seiner Mitglieder wird angestrebt, denn auch die OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) ist nicht länger der alte kontinentale Gesprächspartner. Letztlich geht es um einen historischen Bruch mit enormen Auswirkungen auf die Zukunft.
Auf der anderen Seite wird es in Lateinamerika immer schwieriger, Russland und China für "Bedrohungen" zu halten. Die Zeit des Kalten Krieges hat auch Lehren hinterlassen, um die Logik der Konfrontation zwischen Mächten zu verstehen. In der Region sind die mit diesen Ländern aufgebauten Handels-, Finanz- und sonstigen Beziehungen eine besondere Errungenschaft lateinamerikanischer Staaten, Unternehmer und Unternehmen, die den durch die kapitalistische und transnationale Globalisierung selbst geschaffenen Raum für sich zu nutzen wussten.
Die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine, der den russischen Markt geschlossen hat, haben die besondere Aufmerksamkeit der UNO-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Cepal) erregt, die im April ihre Studie "Wirtschaftliche und finanzielle Auswirkungen des Konflikts zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine in Lateinamerika und der Karibik" vorgelegt hat.
Die ecuadorianischen Bananen- und Rosenexporteure haben in Russland seit Jahren einen einträglichen Markt gefunden, und der Schlag durch die Schließung dieses Marktes erwies sich als Problem, das über den wirtschaftlichen Bereich hinausgeht und Auswirkungen auf das politische Leben des Landes hat. Brasilien gehört zu den Brics und wahrscheinlich kommt Argentinien dazu, das an einem Beitritt interessiert ist.
Und es sind auch rechte Regierungen wie die von Jair Bolsonaro in Brasilien oder eine unternehmerisch-neoliberale und plutokratische wie die von Guillermo Lasso in Ecuador, die ihre Beziehungen zu China stärken wollen.
China verdrängt die USA als Hauptinvestor in Lateinamerika
China ist fest in Lateinamerika verankert. Das asiatische Land, die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, hat die USA als Hauptinvestor in praktisch dem gesamten Süden des amerikanischen Kontinents abgelöst. Diese Dynamik wird sich nach Meinung von Experten angesichts der Entscheidung Pekings, die Beziehungen zu Lateinamerika zu intensivieren, ‒ die auf dem kürzlich abgehaltenen Kongress der regierenden Kommunistischen Partei gefällt wurde ‒ noch verstärken.
Chinas ausländische Direktinvestitionen (ADI) in Lateinamerika belaufen sich auf mehr als 171 Milliarden US-Dollar. Dies entspricht einem Zuwachs von 589 Prozent in den letzten zehn Jahren, d. h. fast einer Versiebenfachung.
Nach dem 20. Kongress der Kommunistischen Partei Chinas, der vom 16. bis 22. Oktober stattfand, waren sich Fachleute einig, dass Lateinamerika im Wachstumsplan des asiatischen Riesen für den Zeitraum 2020-2035 von großer Bedeutung ist. Denn auch wenn sich Chinas Investitionen in Lateinamerika nach der Pandemie verlangsamt haben mögen, weil die internen Bedürfnisse abgedeckt werden müssen, wird die chinesische Regierung ihre Politik der Annäherung an die Region fortsetzen.
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Titelbild (Archiv): Ein chinesischer Festumzug in São Paulo © Cris Faga/ZUMA Wire
Dieser Artikel ist zuvor auf dem Portal „amerika21“ erschienen.
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