Von Valter Pomar
In der lateinamerikanischen und karibischen Linken gibt es unterschiedliche Positionen zum Krieg in der Ukraine. Es gibt tatsächlich extreme Positionen, die scheinbar Sprecher für die Positionen von Wladimir Putin bzw. Joe Biden sind. Diese Vielfalt ist nichts Neues. Die Diversität ist ein Merkmal sowohl der globalen Linken als auch der lateinamerikanischen Linken. Um das zu bestätigen, bringe ich in diesem Text einige Beispiele.
In der Debatte darüber, wie man sich angesichts des Krieges von 1914-1918 positionieren sollte, gab es in der Zweiten Internationale mindestens zwei Blöcke: eine Minderheit von "Defätisten" und eine Mehrheit für die Unterstützung der Position der eigenen Regierung. Und diese Mehrheit wiederum teilte sich zwischen Anhängern der Entente und Anhängern der Mittelmächte auf.
Auch in der Debatte um die Positionierung angesichts des Zweiten Weltkriegs gab es unterschiedliche Positionen. Positionen, die sich übrigens geändert hatten, vor und nach München, vor und nach dem Molotow-Ribbentrop-Pakt, vor und nach dem Einmarsch in die UdSSR usw.
Vor, während und nach den Weltkriegen war die Linke auch angesichts des Phänomens des Kolonialismus gespalten. Auf den Kongressen der Zweiten Internationale gab es Verfechter eines bizarren sozialistischen Kolonialismus. Und nach dem Zweiten Weltkrieg blieb ein Teil der Linken mitschuldig an der kolonialen Besetzung von Ländern in Afrika, Asien und sogar Lateinamerika.
Auch über die sowjetischen Interventionen in Ungarn, der Tschechoslowakei und Afghanistan gab es keine Einigkeit; oder in der Debatte um die militärischen Auseinandersetzungen zwischen China, Vietnam und Kambodscha. In jüngerer Zeit gab es weiterhin Spaltungen in den Debatten über die imperialistischen Militärinterventionen im Irak, in Afghanistan, Syrien und Libyen. Ganz zu schweigen von den unterschiedlichen Haltungen gegenüber der Besetzung Palästinas durch Israel. Oder angesichts der Existenz der Organisation des Nordatlantikvertrags (Nato)
Linke in der Vielfalt
Die Vielfalt der Positionen auf der Linken ergibt sich, sozusagen, aus der Existenz verschiedener Linker, die unterschiedliche historische Entwicklungen, unterschiedliche Orte in der Welt und verschiedene Segmente der Arbeiterklasse zum Ausdruck bringen. Diese Unterschiede äußern sich wiederum in den jeweiligen Taktiken und Strategien, programmatisch und theoretisch.
Kein Wunder also, dass es auf der Linken unterschiedliche Positionen zum Krieg in der Ukraine gibt. Es überrascht auch nicht, dass sich der "kleinste gemeinsame Nenner" der Positionen in der lateinamerikanischen Linken von dem der Positionen in der europäischen Linken unterscheidet. Ein Beispiel dafür ist das Papier, das am 1. und 2. April von der Arbeitsgruppe des Foro de São Paulo verfasst wurde, einer 1990 gegründeten Organisation, die die Positionen eines wichtigen Sektors der lateinamerikanischen und karibischen Linken zum Ausdruck bringt1. In dem Papier steht folgendes:
"Der andauernde und anhaltende militaristische Angriff des US-Imperialismus und seiner neokolonialistischen Verbündeten auf der ganzen Welt, wie in diesen Tagen im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, ist die objektive Ursache dieser bereits globalen Tragödie."
"Die USA und die Nato müssen ihre militaristische Strategie beenden, die den Völkern mit einem nuklearen Holocaust droht."
"Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine ist tragischerweise eine Folge dessen, was die USA und die Nato in Syrien, im Irak, im Iran, in Libyen, in Palästina, im Jemen, in der Westsahara und auf der ganzen Welt mit direkten und indirekten militärischen Interventionen und mit einem internationalen System tun. Sie sind in der Krise nicht in der Lage, das Völkerrecht zu verteidigen."
"Im Hinblick auf den militärischen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine fordern wir den Aufbau des Friedens und setzen uns für eine politische und diplomatische Lösung der Konflikte ein, die den Multilateralismus und alle Prinzipien des Völkerrechts berücksichtigen und respektieren und allen Arten von Militäraktionen, Sanktionen, Blockaden, Wirtschaftsstrafen und kolonialistischen Besetzungen, die schließlich zur Gefangenschaft der Völker führen, ein Ende setzen."
Abgesehen von dem oben zusammengefassten gibt es bekanntlich auch andere linke Meinungen in Lateinamerika und der Karibik, einige sehr auf die Positionen des Kreml, andere sehr auf die Washingtons ausgerichtet. Selbstverständlich gibt es auch diejenigen, die sich an der europäischen Linken orientieren.
Prämissen der Einschätzung
Angesichts einer solchen Vielfalt ist es wichtig, die Prämissen der Argumentation des Foro de São Paulo im vorliegenden Text explizit zu machen. Zunächst sind wir der Ansicht, dass die militärische Intervention der Russischen Föderation in der Ukraine nicht unerwartet und nicht unvorhergesehen kam. Die Geschichte der Ereignisse führt uns bis in das Jahr 1989, als die "Russen" (in dem Fall noch: die Sowjets) ihre Truppen aus Osteuropa abzogen. Deutschland machte die ersten Schritte in Richtung Wiedervereinigung und die USA versprachen, dass die Nato "nicht einen Zoll" in das ehemalige Einflussgebiet der UdSSR vorrücken werde.
Im März 1991 endete der Warschauer Pakt, im Dezember 1991 endete die UdSSR selbst. Russland und die Ukraine wurden unabhängige Republiken.
In den Jahren unmittelbar nach diesen Ereignissen galt die größte Sorge der USA nicht der Volksrepublik China. Hauptanliegen der USA war, ihre einseitige Macht zu behaupten, was bedeutete, die entstehende Europäische Union unter ihrer Vormundschaft zu halten. Zu diesem Zweck bestanden die USA auf der Politik, "die Russen draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten zu halten" – ein Satz, den General Lord Ismay, der erste Generalsekretär der 1949 gegründeten Nato, geprägt hatte.
In der Praxis förderten die USA die Zersplitterung des ehemaligen sowjetischen Raums und die Schwächung der Russischen Föderation, blockierten die Schaffung einer europäischen Armee und erweiterten die Nato-Präsenz. Seitdem und bis heute hat die Organisation mehrere osteuropäische Länder wie Polen, die Tschechische Republik, Ungarn und Bulgarien aufgenommen.
Ebenfalls in den 1990er Jahren änderte die Nato offiziell ihre Handlungsparameter. Eine der Folgen davon war der ohne Genehmigung der Vereinten Nationen geführte Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, ein Krieg, der 78 Tage Luftangriffe umfasste, vom 24. März 1999 bis zum 10. Juni 1999.
Es gibt mehrere Hypothesen und Versionen über die "große Strategie", die von den USA nach dem Ende der UdSSR angenommen wurde. Aber es besteht kein Zweifel, dass einer der Zwecke dieser Strategie darin bestand, die Russische Föderation zu neutralisieren. Den "ideologischen Feind" zu besiegen war nicht genug; es sei auch notwendig, gegen den "geopolitischen Gegner" vorzugehen.
Russland reagierte nur langsam auf die Nato-Belagerung. Hätte es sich auf Boris Jelzin verlassen, wäre Russland Teil der Organisation geworden. Aber die Ereignisse drängten breite Teile der neuen russischen herrschenden Klasse in eine andere Position. Und spätestens seit 2007 machten Wladimir Putins Äußerungen immer wieder deutlich, dass es eine "rote Linie" gibt, die nicht ohne Reaktion überschritten werden könne.
Rote Linie überschritten
Diese rote Linie wurde mit dem Staatsstreich in der Ukraine im Jahr 2014 überschritten, einem Staatsstreich, der unter offener und öffentlicher Beteiligung von Vertretern der USA, der Europäischen Union und auch paramilitärischer Nazi-Kräfte vorangetrieben wurde – von allen zusammen. Die Russische Föderation reagierte auf den Putsch mit der Rückeroberung der Krim und der Förderung sezessionistischer Bewegungen in der als Donbass bekannten Region.
Während der Amtszeit des derzeitigen ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, einem Befürworter des Nato-Beitritts der Ukraine und darüber hinaus Befürworter einer vermeintlich totalen und endgültigen Militäroffensive gegen die beiden abtrünnigen Republiken Donbass, eskalierte die Situation erneut.
Angesichts der Provokationen Selenskiys hat die russische Regierung zahlreiche öffentliche Warnungen ausgesprochen, einen Rückzug der Regierung der Ukraine und der Nato gefordert und dann – begründet mit den neu unterzeichneten Abkommen mit der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Lugansk – präventiv die Ukraine angegriffen.
Dies hat einige Teile der Linken dazu veranlasst, die Verteidigung der ukrainischen nationalen Selbstbestimmung an erste Stelle zu setzen, obwohl sie gegen die Nato und die USA sind. Diese Flügel der Linken erkennen an, dass die russische Regierung mit mehreren ihrer Anklagen und Beschwerden Recht hatte, behaupten jedoch, dass die russische Regierung – weil sie zuerst angegriffen habe – angeblich "das Argument verloren" hätte. Was eigentlich legitimierte die Argumente für Wirtschaftssanktionen, für die militärische Unterstützung des Westens der Ukraine, für die Russophobie und die Zensur von Medien und Fachleuten bei denen, die die "offizielle Rede" gegen Putin nicht unterstützen?
Den vollständigen Artikel können Sie hier nachlesen.
Dieser Beitrag muss nicht die Meinung der Redaktion widerspiegeln.
Titelbild (Archiv): Ein in Folge von Kampfhandlungen zerstörtes Haus in der Lugansker Region © Alexander Reka/TASS
Zu dem Autor: Valter Pomar ist ein brasilianischer Historiker, Professor für Internationale Beziehungen an der Universidade Federal do ABC und Mitglied des Nationalen Vorstandes der Arbeiterpartei (PT).
Dieser Artikel ist zuvor auf dem Portal „amerika21“ erschienen.
© 2020 EuroBRICS World Economy S.L. Alle Rechte vorbehalten.