Von Daniela Gschweng
Unternehmen weltweit kaufen Emissionsgutschriften, um ihre CO2-Bilanz zu verbessern. Ein Grossteil der Gutschriften des grössten Zertifizierers Verra deckt jedoch viel weniger Einsparungen ab als angegeben, fand die Recherche dreier Medienunternehmen. Ein veritabler Klima-Skandal.
Das Versprechen: Für jedes Zertifikat wird irgendwo in der Welt Wald aufgeforstet oder ein Windrad gebaut. Win-Win also, für die Unternehmen und das Klima.
Was, wenn der Zertifikats-Handel ausser Kontrolle gerät?
Das, zumindest, ist die Absicht. Doch dem Klima ist meistens nicht geholfen, haben Recherchen der „Zeit“, des „Guardian“ und des Recherchemediums „SourceMaterial“ aufgedeckt.
Der grösste Teil der der überprüften Zertifikate kompensiere nichts, stellt die Recherche fest. Sie machen die Klimakrise sogar schlimmer. Markt, Macht, Geld und fehlende Aufsicht führen zu einem ausser Kontrolle geratenen Markt.
Die Recherchepartner nahmen dabei mit wissenschaftlicher Unterstützung Kompensationsprojekte des Unternehmens Verra unter die Lupe. Verra ist der derzeit führende Carbon-Credit-Händler. Das Unternehmen verkauft CO2-Credits aus Projekten, die es nach eigenen Richtlinien prüft. Vor allem Waldschutzprojekte haben in den letzten Jahren stark zugenommen.
Abenteuer Waldkompensation
Da, so die „Zeit“, liege einer der Fehler im System: Wald ist ein unsicheres Kompensationsobjekt. Bis Bäume der Umwelt wesentliche Mengen CO2 entziehen können, dauert es unter Umständen Jahrzehnte. Inzwischen kann der Wald wachsen oder auch nicht, Waldbränden und Stürmen zum Opfer fallen oder sogar abgeholzt werden. Die Kompensation ist spekulativ und findet, wenn überhaupt, in der Zukunft statt. Das allein ist schon eine Menge „hätte„, „könnte„ und „wäre“.
Emissionsgutschriften für Waldschutz werden immer mehr – damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit für Irrtümer und Betrug. © Daten: Verra, Visualisierung: Die Zeit
Wirklich abenteuerlich: Waldschutzprojekte können auch Zertifikate ausgeben für Wald, der vermutlich abgeholzt worden wäre, hätte das Kompensationsprojekt nicht eingegriffen. Etwa 30 Prozent der weltweit verkauften Emissionsgutschriften seien solche verhinderten Entwaldungen, schätzt „SourceMaterial“. Ohne Kontrollen könnte so theoretisch die gesamte stehende Waldfläche der Welt als CO2-Gutschrift verkauft werden.
Die Organisationen, die hinter den Projekten stehen, schätzen die CO2-Ersparnis zunächst selbst ein. Dazu legen sie die Standards eines Zertifizierers wie Verra an, der die Schätzungen nach dem eigenen Verified Carbon Standard (VCS) überprüft.
Der Markt begünstigt den Zertifikat-Schwindel
Um „echte“ von „falschen“ Kompensationen zu trennen, bedürfte es akribischer Arbeit, sagt Elias Ayrey, den „Die Zeit“ befragt hat. Der US-Ökologe berichtet, wie er für ein US-Start-Up die Kompensationstauglichkeit von Waldschutzprojekten bewertete. Er sichtete Satellitendaten und berechnete aufwendige CO2-Bilanzen. Dabei stiess er auf etliche Projekte, bei denen die Kompensation viel zu hoch angesetzt war, und sogar solche, bei denen der Wald trotzdem zerstört wurde. Das Unternehmen habe unter Druck gestanden, „gute“ Zertifikate zu finden, die es verkaufen könne, sagt er.
Die wissenschaftliche Überprüfung gibt ihm Recht. Forschende, die zwei Drittel der von Verra genehmigten aktiven Projekte untersuchten, fanden, dass nur 8 von 29 Projekten nachweislich dazu beitrugen, Entwaldung zu verringern. 94 Prozent der ausgestellten Carbon Credits hätten nicht genehmigt werden dürfen, schliessen sie. Entweder hatten sie gar keine positive Wirkung auf das Klima oder die Wirkung war übertrieben. Die prognostizierte CO2-Kompensation war bis zu viermal so hoch wie eine realistische Schätzung, fand eine Analyse der University of Cambridge.
„Es ist wie beim Doping. Drei Leute dopen, deshalb müssen alle dopen. Und jeder weiss Bescheid.“
Elias Ayrey, Ökologe
Ayrey hält das System von Verra für eines, in dem systematisch manipuliert wird. Er vergleicht das mit Doping – mache es einer, müssten es alle tun und jeder wisste Bescheid. Das ist nicht mehr nur spekulativ, sondern so ähnlich wie Falschgeld.
Es ist die Geschichte einer Organisation, die Gutes gewollt, aber womöglich nichts Gutes geschaffen hat. 89 Millionen Tonnen CO2 seien als „Geister-Zertifikate“ auf dem Kompensationsmarkt gelandet, schreibt „Die Zeit“. Das entspreche den jährlichen Emissionen von Griechenland und der Schweiz zusammen.
In der neunmonatigen Recherche sprach das Recherchekollektiv mit etlichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die am Kompensations-Modell zweifeln. Unter ihnen ist die Klimaberaterin und Professorin Charlotte Streck, die im Vorstand von Verra sass, und der Ökologe Lucio Pedroni, der Verra berät.
Insider zweifeln, Verra dementiert
Pedroni hält das System für grundsätzlich gut, es sei aber von einigen missbraucht worden. Streck sieht die Verantwortung bei Verra. Ihre Beratungsfirma Climate Focus habe für die Mitarbeit am Regelwerk VM0007 im vergangenen Jahr wohl an die zwei Millionen Dollar Lizenzgebühren von Verra erhalten, schätzt „Die Zeit“. Verra ist als Nonprofit-Organisation registriert, bezahlt keine Steuern und machte 2022 einen Umsatz von 40 Millionen Dollar.
David Antonioli, der Geschäftsführer von Verra, verwickelt sich beim Gespräch mit der „Zeit“ in Widersprüche. Man sei nicht perfekt und überarbeite derzeit die Regelwerke, sagt er. Über- und unterbewertete Projekte glichen sich aus, sagt er auch. Einen Beleg dafür präsentiert er nicht. In einer Stellungnahme auf seiner Website dementiert Verra die Existenz von Phantom-Zertifikaten und kritisiert die von den Forschenden verwendeten Methoden.
Zertifikathandel ist ein Millionengeschäft
Ums Klima geht es beinahe nur noch am Rande, hauptsächlich geht es um Millionen. Sehr viele Millionen, Tendenz: steigend. Bisher kaufen vor allem Unternehmen Carbon Credits, um ihren Fussabdruck zu reduzieren. Die Recherche beleuchtet Unternehmen wie Disney, Easyjet, Shell und Gucci und ihr Kompensationsverhalten.
Die Kunden kommen aus allen Branchen. Auch Unternehmen wie Nestlé, Air France, Gazprom und EY sind dabei. In der Praxis, so der Eindruck, werden Zertifikate oft als Freifahrschein verwendet, damit sich Unternehmen aufwendige Restrukturierungen sparen können.
Auch Staaten können Emissionsgutschriften kaufen. Bisher akzeptiere nur Kolumbien Verra-Zertifikate, ab 2014 komme Singapur dazu, hat „Die Zeit“ recherchiert. Weitere Länder könnten folgen. Für Händler wie Verra, der bisher etwa drei Viertel des Handels mit freiwilligen Kompensationen abdeckt, winken dabei Macht und Geld. Um gross einzusteigen, brauchen die Carbon-Credit-Händler dann nur noch genügend gültige Kompensations-Zertifikate.
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Titelbild: Forstwirtschaft in Australien © Matt Palmer/Unsplash
Dieser Artikel ist zuvor auf dem Portal „Infosperber.ch“ erschienen und wird unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-ND 4.0 veröffentlicht.
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