Von Moritz Tremmel
Wenn ihr eure Freund_innen und Verwandten per SMS oder E-Mail zum Geburtstag einladet, wird das potenziell überwacht. Was macht das mit euch? Schreibt ihr sorgenfrei, dass die Party „Bombe“ wird? Oder würdet ihr ohne Bedenken offen im Netz zum Thema IS-Propaganda recherchieren? Über die genauen Mechanismen der Überwachung ist wenig bekannt und trotzdem haben sie einen Einfluss auf uns.
Die Geheimdienste erfassen alles, was sie bekommen können. Telefonanrufe, Textnachrichten, (Video-)Chats, E-Mails, Webseitenbesuche, in der Cloud abgelegte Dateien, Forendiskussionen – all das und viel mehr speichern und rastern die Dienste in ihren Datenbanken.
Seit den Snowden-Leaks im Juni 2013 sind viele dieser Überwachungsprogramme kein Geheimnis mehr. Sie werden in den Medien und der Öffentlichkeit diskutiert. Es gab (parlamentarische) Untersuchungsausschüsse zu diesem Thema sowie etliche Buchveröffentlichungen, Dokumentationen und vieles mehr.
Eine spannende Frage wird allerdings meist nicht gestellt: Welche Auswirkungen haben die geheimdienstlichen Programme der Telekommunikationsüberwachung auf die einzelnen Menschen? Wirken sie als ein Mittel sozialer Kontrolle? Diesen Fragen bin ich im Rahmen meiner nun veröffentlichten Magisterarbeit mit Theorien der sozialen Kontrolle nachgegangen.
Soziale Kontrolle verändert sich
Was aber ist soziale Kontrolle überhaupt? Gemeint sind damit staatliche und private Mechanismen und Techniken, mit denen eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe ihre Mitglieder dazu anhält, sich an bestehende Normen zu halten.
Wie soziale Kontrolle funktioniert, wandelt sich und hängt von den herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen ab. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierten disziplinargesellschaftliche Elemente und Techniken. Dabei gab es starre Verhaltensregeln, denen Personen entsprechen mussten. Durch einen ökonomischen, kulturellen und sozialen Wandel geriet die Disziplinargesellschaft in eine Krise und wurde seitdem von Elementen und Techniken der Sicherheitsgesellschaft abgelöst.
In der Sicherheitsgesellschaft gilt der gesellschaftliche Durchschnitt als normal. Einzelne müssen sich dabei nicht mehr an einem festen Ideal ausrichten, sondern können unter einer Vielzahl von Verhaltensoptionen wählen. Allerdings dürfen sie dabei bestimmte Toleranzgrenzen nicht überschreiten – sonst werden sie zum Risiko, dass sicherheitsgesellschaftlich verwaltet werden muss.
Selbstführung statt Selbstdisziplinierung
An die Stelle der Selbstdisziplinierung aus der Disziplinargesellschaft treten in der Sicherheitsgesellschaft die Selbstführungstechniken. Personen passen ihr Verhalten von sich aus und vermeintlich selbstgewollt an antizipierte Standards an. Konformität wird damit nicht länger durch Unterdrückung bestimmter Verhaltensweisen gewährleistet, sondern vielmehr durch inhaltliche Vorgaben mit Freiräumen verbunden. Einzelne können sich auf verschiedene Weise benehmen, müssen aber mit den Konsequenzen ihres Verhaltens leben. Dabei werden bestimmte Verhaltensweisen gefördert und andere erschwert. So wird es letztlich wahrscheinlicher, dass sich Menschen wie erwünscht verhalten.
Neben den Selbstführungstechniken arbeitet die Sicherheitsgesellschaft erstens mit Kontrolltechniken und zweitens mit sozialem Ausschluss. Erstere umfassen zunächst klassische Strategien der Überwachung. Diese werden in zunehmendem Maße technisiert, automatisiert und computergestützt umgesetzt. Mittels der Überwachung sollen Risikopotenziale frühzeitig erkannt und ihnen begegnet werden.
Das Entdecken der Risiken funktioniert dabei zunehmend anlasslos und soll allgegenwärtig wie umfassend erfolgen. Die Kontrolle nimmt zu und damit die Entdeckung neuer Risikofaktoren. Die Folge: Auch die Anzahl der Risikoträger_innen steigt damit kontinuierlich an.
Wurde lange Zeit auf Reintegration gesetzt, kommt mit der Sicherheitsgesellschaft der sozialkontrollierende Ausschluss zurück. Bestimmten Menschen und Gruppen wird die Fähigkeit zu Selbstführung abgesprochen. Da sie nicht mehr mit Kontrolltechniken zu lenken sind, werden sie aus sozialen Strukturen oder Räumen ausgeschlossen beziehungsweise kriminalisiert. Häufig gelten diese Menschen oder (Rand-)Gruppen als ökonomisch „überflüssig“ und werden als für die Gesellschaft gefährlich eingestuft.
Permanente Verunsicherung führt zu Selbstführung
In der Diskussion über internationalem Terrorismus verbinden sich die gesellschaftliche Furcht vor (Gewalt-)Kriminalität und meist migrantische Randgruppen mit Abstiegs-, Zukunfts- und Existenzängsten, die auf diese Gruppen projiziert werden. Diese konstruierten und übersteigerten Ängste schlagen sich in Sicherheitsdiskursen nieder, die von präventiven und bestrafenden Bekämpfungsmethoden geprägt sind.
Das Bedürfnis nach Sicherheit greifen Regierungen auf und reproduzieren es damit zugleich. Sie versprechen ihren Bürger_innen, sie vor Kriminalität, Terrorismus und sonstigen Gefahren zu beschützen – und geben ihnen so das Gefühl, Schutz zu erhalten. Diese Entwicklung führt zu einer fortwährenden Verschärfung des Strafrechts und Strafverfolgungsbehörden, die zunehmend auf Gefahrenabwehr ausgerichtet werden. Flankiert wird dies durch eine Zunahme geheimdienstlicher Praktiken, die die Bevölkerung als Ganzes ins Auge fassen und bereits weit im Vorfeld strafbarer Handlungen zum Einsatz kommen.
Letztlich stützen Geheimdienste und andere Sicherheitsbehörden diesen Prozess durch stets neue Warnungen vor Terroranschlägen und weiteren Bedrohungen sowie durch Forderungen nach einem Ausbau der Sicherheitsarchitektur. Die Maßnahmen und Warnungen erzeugen bei den Menschen einerseits ein Sicherheitsgefühl, gleichzeitig aber auch ein Gefühl von Unsicherheit. Auf diese Weise beteiligen sich die Geheimdienste daran, die Rahmenbedingungen zur Selbstführung zu schaffen.
Geheimdienstliche Kontrolle und Risikodetektion
Begründet wird die massenhafte Überwachung unter anderem mit der Suche nach Terrorist_innen. Allerdings verwendete der US-Geheimdienst NSA laut Dokumenten aus den Snowden-Enthüllungen nur gut ein Drittel seiner Ressourcen dazu, Terrorismus zu bekämpfen. So spähte die NSA andere Staaten und internationale Organisationen (UN, WTO, OSZE, Internationaler Strafgerichtshof und weitere) aus, sie bekämpfte Kriminalität (Waffenhandel, Drogenhandel) und betrieb Wirtschaftsspionage (durch die Geheimdienste). Die Überwachung richtete sich dabei auch gegen Journalist_innen, Whistleblower_innen und Aktivist_innen. Aber auch die Kommunikation von zig Millionen anderer Bürger_innen gerät Tag für Tag in das Raster der Geheimdienste. So nahm etwa die NSA im Jahr 2013 an nur einem Tag 117.675 aktive Überwachungsziele ins Visier.
Um Risiken oder Risikoträger_innen erkennen zu können, greifen Geheimdienste auf Big-Data-Anwendungen zurück. Dazu gehören Überwachungsprogramme wie SKYNET, MERCURY, KARMA POLICE, SQUEAKY DOLPHIN, XKeyscore, aber auch die strategische Fernmeldeaufklärung des BND.
Diese Programme scannen die Telekommunikationsdaten auf Muster, Raster und Profile – kurz auf Anomalien und Abweichungen, die als nicht tolerierbar gelten. Hinzu kommen zunehmend automatisierte, computergestützte Verhaltensanalysen sowie die Analyse der Lebensumstände Einzelner, um deren Verhalten voraussagen zu können.
Sowohl die NSA als auch der GCHQ und der BND arbeiten mit zum Teil selbstentwickelten Programmen zur Verhaltenserkennung und -vorhersage. Aus den von Edward Snowden geleakten Dokumenten geht hervor, dass die Dienste in diesem Bereich immense Anstrengungen unternehmen und massiv Geld investieren. Die geleakten Dokumente stammen hauptsächlich aus dem Zeitraum zwischen 2009 und 2012.
Es ist davon auszugehen, dass die Geheimdienste die automatisierte, algorithmische Auswertung der Daten zur Verhaltensanalyse und -vorhersage seitdem massiv weiterentwickelt und ausgebaut haben. Eine umfassende Kontrolle – sowie Risikodetektion und Prävention – kann nur dann gelingen, wenn eine ausreichend große Menge an Daten vorliegt, die analysiert werden kann. Dies ist im Falle der massenhaften Telekommunikationsüberwachung gegeben.
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Titelbild (Symbol): Überwachung © Tobias Tullius/Unsplash
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