Von Alexander Männer
Wladimir Selenskij galt für viele Spitzenpolitiker, Experten und andere Beobachter im Westen bis vor Kurzem noch als der große Hoffnungsträger, der den Krieg mit Russland für die Ukraine – und damit quasi auch für die westlichen Staaten – entscheiden sollte. Allerdings bringt die im Grunde gescheiterte "Großoffensive" seiner Truppen, die seit knapp zwei Monaten erfolglos gegen die russischen Verteidigungslinien an der Donbass- und der Saporoschje-Front anrennen und dabei schwere Verluste erleiden, keine guten Zukunftsaussichten für den ukrainischen Präsidenten.
Dafür spricht etwa das jüngste NATO-Gipfeltreffen in Vilnius, bei dem die ukrainische Führung wegen fehlender Kriegserfolge in Kritik geraten war und seitdem unter schwerem politischem Druck steht. Denn die Vereinigten Staaten, Großbritannien und andere NATO-Mitglieder hatten von Kiew im Vorfeld des Gipfels strategische Kriegserfolge verlangt, die bislang jedoch fehlen. Im Gegenteil, sowohl die anhaltende Gegenoffensive als auch der gesamte Kriegsverlauf entwickeln sich definitiv nicht zu Gunsten der Ukraine, die nach Schätzungen bislang insgesamt mehr als 250.000 Soldaten sowie Tausende Panzer, Panzerfahrzeuge und andere militärische Ausrüstung verloren haben soll.
Dass Selenskij diese Situation durchaus mitverschuldet hat, weil er sich zum Beispiel geweigert hatte, seine Truppen aus der ehemals hart umkämpften Donbass-Stadt Artjomowsk beziehungsweise Bachmut im Frühjahr abzuziehen und dadurch den Tod von Tausenden ukrainischen Soldaten unter anderem wegen politischen und propagandistischen Zwecken in Kauf nahm, wurde sogar in den westlichen Medien thematisiert.
Laut dem russischen Experten Wassili Stojakin lässt ein aktueller Artikel in dem bekannten US-Magazin "Politico" darauf schließen, dass Selenskij als Partner für den Westen endgültig untragbar geworden ist. Denn im Artikel "Ukraine’s plan if Russia assassinates Zelenskyy" wird über die Ermordung des ukrainischen Staatschefs spekuliert, was man angesichts der jüngsten Konflikte zwischen Selenskij und dem Westen sowie der erfolglosen ukrainischen Großoffensive durchaus als Warnung an den Ukrainer auffassen kann.
So heißt es im Artikel unter anderem: "Selenskijs Status als Symbol dessen, was der Westen als gerechten Kampf ansieht, seine Fähigkeit, seine Verbündeten so lange anzubetteln und zu beschimpfen, bis er seinen Willen bekommt, seine Bereitschaft, sich schamlos zu den angesagtesten politischen Fototerminen und zu Reden in Parlamenten zu begeben – mit all dem hat er sich die sprichwörtliche Zielscheibe auf die Stirn gemalt."
Das soll eine Andeutung irgendeiner Aktion seitens Russlands sein, meint Stojakin, die mit dem Skripal-Fall belegt wird.
Weiter im Text werden die Folgen der Ermordung Selenkijs durchgespielt. Dabei kommt der britische Experte Adrian Karatnycky, ein leitender Forscher am Eurasischen Zentrum des Atlantic Council, zu Wort. Seiner Meinung nach werde im Falle von Selenskijs Tod alles recht einfach sein: Ruslan Stefantschuk, der Vorsitzende der Rada, werde die Führung übernehmen. In der Praxis jedoch werde das Land dann vom Leiter des Präsidentenbüros, Andrei Jermak, Außenminister Dmitri Kuleba, Verteidigungsminister Alexei Resnikow und Oberbefehlshaber Waleri Saluschnij geführt werden.
Stojakin zufolge gibt es im Politico-Artikel noch einen weiteren Hinweis darauf, dass der Westen mit der Ukraine auch ohne Selenskij zurechtkommen würde. Es werde nämlich auf einen Artikel verwiesen, der "von den Wissenschaftlern Benjamin Jones und Benjamin Olken für das US-amerikanische National Bureau of Economic Research (NBER) über die Auswirkungen von 59 Attentaten auf Staatsoberhäupter zwischen 1875 und 2004 auf Institutionen und Krieg geschrieben wurde." Daraus sei zu entnehmen: "Morde an Autokraten führen zu bedeutenden Veränderungen in den Institutionen eines Landes, Morde an Demokraten hingegen nicht."
Risiken, die ein urplötzliches Ableben Selenskijs birgt, betreffen in der Tat weniger die Ukraine selbst als vielmehr die öffentliche Meinung im Westen, die dazu neigt, Selenskij als einen "Präsidenten des Weltfriedens" zu sehen, so der russische Experte. Demnach kann man den Schlussfolgerungen von Politico im Allgemeinen zustimmen, da die Ukraine eine "Demokratie" in dicken Anführungszeichen ist – in dem Sinne, dass sie nicht von den Menschen regiert wird, die angeblich gewählt wurden, um sie zu regieren. Zudem ist in einer Demokratie ein Machtwechsel nicht gleichbedeutend mit einem Politikwechsel.
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Titelbild (Archiv): Ukrainischer Präsident Wladimir Selenskij bei einem Besuch in Großbritannien, 08. Februar 2023 © SvenSimon/Presidential Office of Ukraine/picture alliance
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