Von Florian Rötzer
Es werden vom ukrainischen Militär und ukrainischen Medien Nachrichten verbreitet, dass die Offensive nun erste Erfolge bei den Dörfern Rabotino und Verbovoye erzielt und die erste russische Verteidigungslinie durchbrochen habe, wie auch der US-Generalstabschef Mark MIlley versichert. Das will das russische Verteidigungsministerium natürlich anders sehen. Im Hintergrund wird aber deutlich, dass die Offensive und die Verteidigung gegen die russischen Angriffe womöglich bald nicht mehr möglich sein wird, weil der Ukraine offenbar auch wegen der großen Verluste die Soldaten ausgehen, vor allem diejenigen, die gut, beispielsweise im Nato-Ausland, ausgebildet wurden oder überhaupt militärisch geschult sind.
Die prekäre Situation ließ sich schon länger absehen. Vor Monaten war wegen Korruptionsvorwürfen die Entlassung des Verteidigungsministers Resnikow debattiert worden. Und es geht um viel Geld. Nach Resnikow kostet ein Kriegstag um die 100 Millionen US-Dollar, ein Monat also 3 Milliarden Dollar. Jetzt muss er endlich im Zuge eines größeren Aufräumens, bei dem auch der Selenskij-Förderer Kolomoiskyi allerdings eher symbolisch-demonstrativ unter die Räder geriet, seinen Hut nehmen. Stattdessen soll der muslimische Krimtatar Rustem Umerow, Leiter des Staatlichen Eigentumsfonds der Ukraine, neuer Verteidigungsminister werden. Der kommt nicht mal aus Selenskijs Partei und hat beim Gefangenenaustausch und dem Getreideabkommen mitgemischt, aber keine militärische Erfahrung. Das moniert der bekannte Kriegsberichterstatter Juriy Butossow, der censor.ua betreibt. Umerow sei „weit entfernt vom Krieg“ und mehr oder weniger wie Resnikow eine Marionette vom mächtigen Leiter des Präidialamts Andrij Jermak. Da er militärisch nicht bewandert ist, werde er zwar lernen, aber nicht schnell Entscheidungen treffen, was das „Blut von Zehntausenden“ kosten werde.
Auf Selenskijs Anordnung wurden alle Leiter der Rekrutierungszentren entlassen, weil dort viel Geld verdient wurde, Männer nicht einzuziehen. Ärzte haben massenweise profitiert, Wehrpflichtigen Untauglichkeit zu attestieren. Viele Wehrpflichtige, die das dafür erforderliche Geld für gefälschte Dokumente oder Fluchthelfer aufbringen konnten, sind außer Landes gegangen. Schon seit geraumer Zeit werden Wehrpflichtige auf Straßen oder in öffentlichen Räumen von Rekrutierungsteams gejagt und teils mit Gewalt eingefangen, um kurz ausgebildet und gleich an die Front geschickt zu werden. Mitunter sollen sie sie auch in Häuser eindringen. Zehntausende haben sich in Universitäten eingeschrieben, was natürlich auch der Korruption Tür und Tor öffnete, weil ein Studium vor Einziehung schützte.
Verzweifelt bemüht sich die Regierung nun darum, der Männer, die sich noch im Land aufhalten und sich bislang bemüht haben, nicht im Krieg verheizt zu werden, habhaft zu werden. Zudem wird darüber nachgedacht, wie sich ukrainische Männer, die mit gefälschten Dokumenten ins Ausland geflüchtet sind, ins Land durch Abschiebung zurückholen ließen. Das dürfte allerdings noch an der Bereitschaft der Länder scheitern, dies auch zu machen. Die Idee ist, das Fälschen von Zertifikaten, mit deren Hilfe das Land verlassen wurde, zur Straftat zu machen, um eine Auslieferung zu ermöglichen. Überlegt wird auch, die Flüchtlinge nach Rückkehr zu bestrafen, was aber das Problem mit sich bringt, dass sowieso nicht ausreichend Flüchtlinge auch nach Kriegsende ins Land zurückkehren werden.
Um jetzt schnell an weitere Männer heranzukommen, die an die Front geschickt werden können, hat das Verteidigungsministerium die Liste der Krankheiten und körperlichen Gebrechen überarbeitet, die vor Einziehung schützen oder eine eingeschränkte Wehrtauglichkeit darstellen. Jetzt können auch Kranke, vor allem psychisch Kranke und solche mit „geringfügigen Funktionsstörungen“, was großen Ermessensspielraum ermöglicht, zum Wehrdienst herangezogen werden. Zudem werden die Entscheidungen der militärmedizinischen Kommissionen noch einmal überprüft. Mitglieder müssen damit rechnen, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden, und Männer, die fälschlich wegen Krankheiten ausgemustert wurden, können dann doch eingezogen werden. Wer eingeschränkt wehrtauglich ist, wird dennoch für bestimmte Tätigkeiten eingezogen.
Studenten soll das Ausbüchsen erschwert werden. Seit Beginn des Kriegs ist die Zahl der Über-15-jährigen Studenten von 40.000 auf über 100.000 angestiegen. Man kalkuliert also mit 60.000 Männern, die sich vor dem Wehrdienst drücken. Jetzt soll nach einem Gesetzesentwurf ein Zweitstudium nicht mehr vor der Rekrutierung schützen.
Oleg Kotenko, der Beauftragte für vermisste Personen, hat nach einem Online-Treffen mit Vertretern des deutschen Technischen Hilfswerks vereinbart, dass Deutschland der Ukraine 10 Kühleinheiten (Container und Kühlwagen) „zur Lagerung der Leichen gefallener Helden zur Verfügung stellen“ wird. Diese Hilfe sei derzeit „äußerst wichtig“, er hoffe, dass auch sich andere Partner für dieses Anliegen einsetzen.
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Titelbild (Archiv): Ein ukrainischer Soldat in Charkov © Andrzej Lange /EPA
Dieser Artikel ist ursprünglich auf dem Portal „Overton Magazin“ erschienen und wird mit dem Einverständnis des Autors veröffentlicht.
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