Von Florian Rötzer
Wie sich vorhersehen ließ, haben die Behörden der nicht völkerrechtlich anerkannten, mehrheitlich von Armeniern bewohnten Republik Bergkarabach (Arzach) kapituliert, nachdem am Dienstag aserbeidschanische Truppen mit einem Angriff begonnen hatten und zuvor von der armenischen Führung klargestellt wurde, dass Armenien der Republik mit einer Bevölkerung von etwa 150.000 Menschen nicht militärisch zu Hilfe kommen wird. Auch die internationale Gemeinschaft nicht genügend getan habe, den Krieg zu beenden. Aserbeidschan hat seine „Antiterrormaßnahmen“ eingestellt, da die bewaffneten armenischen Verbände ihre Waffen niederlegten und ihre Positionen verließen. Hunderte Menschen wurden getötet, viele verletzt. Russland erklärt, man werde sich in den Konflikt nicht militärisch einmischen: „De jure finden die Feindseligkeiten in dem Gebiet statt, das Armenien als Teil Aserbaidschans anerkannt hat“, sagte der Sprecher des Föderationsrats Konstantin Kosachev.
Arzach hatte sich bereits 1988 als unabhängig erklärt, 1991 kam es zum ersten Krieg zwischen Armenien und Aserbeidschan. Zwar waren 2020 nach dem letzten Krieg und der Niederlage Armeniens aufgrund einer Friedensvereinbarung russische Friedentruppen in der Region stationiert worden und hatte Aserbeidschan einige Gebiete zurückerhalten. Russland und die EU vermittelten weiter Friedensgespräche, aber es kam zu keiner Einigung.
Armenien löste sich weiter von Russland ab und stimmte zusammen mit Aserbeidschan im Oktober 2022 unter der Vermittlung des französischen Präsidenten Macron und des EU-Präsidenten Michel der Prager Erklärung zu, wechselseitig die territoriale Integrität und Souveränität anzuerkennen, womit Armenien Bergkarabach fallenließ und auch keine Vorsorge für den Schutz der armenischen Bevölkerung in der Provinz traf. Auch jetzt zeigt sich Russland darüber verärgert. Maria Sacharowa, die Sprecherin des russischen Außenministeriums, sagte: „Das war Eriwans endgültige Lösung für die Bergkarabach-Frage. Warum Nikol Paschinjan und die armenischen Behörden das getan haben, warum Paris und Brüssel dies angestiftet haben, diese Fragen sollten an sie gerichtet werden.“
Russland, konzentriert auf den Krieg in der Ukraine und verärgert über Armenien, dessen Premierminister Nikol Paschinjan sich dem Westen zugewandt hat und Truppenübungen mit der US-Armee begann, griff als einstige Schutzmacht Armeniens jetzt ebenfalls nicht militärisch zugunsten von Bergkarabach ein. Nicht zuletzt um nicht allen Einfluss in der Region zu verlieren.
Aserbeidschan wird nicht nur von der Türkei, sondern auch von Israel militärisch unterstützt, während der Iran gute Beziehungen zu Armenien pflegte. In letzter Zeit wurde Aserbeidschan wegen der großen Gasressourcen für die EU interessant, gleichzeitig wurde Armenien von den USA, der Nato und der EU umworben, um den russischen Einflussbereich weiter zurückzudrängen. Der Atlantic Coucil rät dazu, dass die USA die Beziehung mit Aserbeidschan verstärkt, um Russland und Iran zu schwächen. Insbesondere wird auf den Mittleren Korridor hingewiesen, ein Transportweg, der China über Zentralasien und den Südkaukasus mit Europa unter Umgehung von Russland verbindet. Dazu kommt: „Ein unter westlicher Vermittlung unterzeichneter Friedensvertrag, der auf der Anerkennung Karabachs als Teil Aserbaidschans beruht, würde dem russischen Einfluss in der Region einen schweren Schlag versetzen. Ein solcher Vertrag würde die Voraussetzungen für den Abzug der russischen Friedensmission aus der Region Karabach schaffen, wo sie nach dem Krieg von 2020 stationiert wurde, und Moskau generell eines Einflusshebels gegenüber Baku berauben.“
Erfolgreich war Russland aber zumindest damit, in dem geopolitisch brisanten Konflikt immerhin eine erste diplomatische Lösung durchgesetzt zu haben. Gleichwohl sind einige Soldaten der russischen Friedenstruppe bei einem Überfall getötet worden.
Heute wurde unter der Vermittlung Russlands ein Waffenstillstand vereinbart zwischen Bergkarabach und Aserbeidschan vereinbart. Armenien war daran demonstrativ nicht beteiligt. Morgen soll es zwischen Vertretern von Bergkarabach und Aserbeidschan in Yevlakh, Aserbeidschan, erste Gespräche über die Wiedereingliederung der Republik in den Staat Aserbeidschan geben. Die bewaffneten Einheiten des zu Aserbeidschan gehörenden Gebiets legen die Waffen nieder. Nach der Waffenstillstandsvereinbarung sollen sich auch die armenischen Truppen zurückziehen, Pschinjan erklärt, es gebe dort keine Truppen, das zu erwähnen sei ein Versuch, Armenien in den militärischen Konflikt hineinzuziehen. Er will die Russen dafür verantwortlich machen, dass die Armenier in Bergkarabach geschützt werden.
Armenier, die aus Bergkarabach fliehen wollen. Bild: Telegram
Zuvor hatte Aserbeidschan monatelang den Latschin-Korridor, die einzige Verbindung zwischen Bergkarabach und Armenien vollständig, auch für humanitäre Güter und Lebensmittel, gesperrt, um die Bevölkerung auszuhungern. Im EU-Parlament wurden Forderungen laut, Sanktionen gegen Aserbeidschan zu verhängen, das beschuldigt wird, eine ethnische Säuberung vorzuhaben und die Armenien aus Bergkarabach zu vertreiben. In Armenien kommt es seit Tagen zu Protesten vor dem Regierungssitz, weil Paschinjan sich dem Druck von Aserbeidschan gebeugt hat. Es werden Rufe nach Amtsenthebung laut, er gilt als Verräter, weil er einen Völkermord zulasse. Gerade die Unterstützung Aserbeidschans durch die Türkei lässt Erinnerung an den Völkermord an den Armeniern 1915/1916 aufkommen, der sich auch auf dem Hintergrund des Konflikts zwischen Russland und der Türkei abspielte. Deutschland unterstützte die Deportation und Ausrottung der Armenier etwa mit der Baghdad-Bahn.
Den Untergang von Bergkarabach hat Paschinjan aktiv betrieben, indem er die Republik als Teil von Aserbeidschan anerkannt und dies unterstrich, in dem er den dort lebenden Armeniern nicht zur Hilfe kam. Mit der Orientierung an USA und EU und der Ablösung von Russland dürfte das die Folge einer Strategie sein, den Konflikt endgültig zu lösen, um Armenien aus der Bindung an Russland und dem Sicherheitsbündnis CSTO zu lösen, um das Land wie Georgien, Moldawien und Ukraine in die Nato aufzunehmen. Dem stand bislang der Konflikt mit Aserbeidschan entgegen.
Noch freilich ist offen, ob es zu einer friedlichen Lösung des Konflikt kommen kann. Das wird wesentlich davon abhängen, ob die Armenier in Bergkarabach bleiben können und ihre Rechte bei der Integration geachtet werden. Wie weit die Armenier Vertrauen in Baku haben und nicht in Massen fliehen werden, wird man bald sehen. Aserbeidschan könnte sie auch dazu drängen. Würden die Flüchtlinge nach Armenien kommen, würden sie dort wohl die Opposition gegen die Regierung stärken.
Protest gegen den westlich orientierten Präsidenten, dem Verrat vorgeworfen wird. Screenshot von YouTube-Video
Viele Menschen in Armenien sehen, das zeigen die Proteste, die Aufgabe von Bergkarabach als Verrat. Dazu kommt, dass dies durch militärische Macht erzwungen wurde. Es könnte also durchaus in Armenien zu einem Umsturz kommen, nachdem Paschinjan ja selbst 2018 durch einen Sturz der Regierung an die Macht kam. Die Polizei geht mittlerweile hart gegen die Protestierenden vor, was die Wut verstärken könnte.
Und es gibt noch einen weiteren ungelösten territorialen Konflikt. Aserbeidschan hat keine direkte Landverbindung zu seiner Enklave, der Autonomen Republik Nachitschewan, in der vorwiegend schiitische Aserbeidschaner leben. Sie kann nur über den sogenannten Sangesur-Korridor auf dem Territorium Armeniens erreicht werden und grenzt an den Iran und die Türkei. Zwar ist die Grenze zur Türkei nur einige Kilometer lang, aber wirtschaftlich ist Nachitschewan vor allem mit der Türkei verbunden. Aserbeidschan fordert die Einrichtung der Verkehrsverbindung über den Sangesur-Korridor, Armenien lehnt dies bislang ab, weil es seine territoriale Souveränität beeinträchtige, schlägt aber eine andere Route vor, die Aserbeidschan wiederum nicht akzeptiert. Auch hier gab es zu Sowjetzeiten eine Eisenbahnverbindung Zəngilan—Meghri—Nakhchivan. Für Aserbeidschan ist der Sangesur-Korridor von „strategischer“ Bedeutung.
Daher kann es hier, nachdem sich Aserbeidschan so leicht bei Bargkarabach durchsetzen konnte, erneut zu einem militärischen Konflikt kommen. Armenien wirft zudem Aserbeidschan vor, armenische Stellungen auf armenischem Territorium angegriffen zu haben.
Dieser Beitrag muss nicht unbedingt die Meinung der Redaktion widerspiegeln.
Titelbild: Fluchtstrom aus der Provinz Berg-Karabach, 21. September 2023 © Verteidigungsministerium der Russischen Föderation/TASS
Dieser Artikel ist ursprünglich auf dem Portal „Overton Magazin“ erschienen und wird mit dem Einverständnis des Autors veröffentlicht.
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